: Armenier stellen Gorbatschow auf die Probe
■ 500.000 Armenier Aserbeidschans demonstrieren in Nagorny-Karabach gegen Diskriminierung und für den Anschluß an die Sowjetrepublik Armenien
Göttingen/Moskau (afp) – Fast 500.000 Menschen haben sich nach Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker inzwischen den Demonstrationen für den Anschluß der überwiegend von Armeniern bewohnten autonomen Region Nagorny-Karabach (Berg-Karabach) an die Sowjetrepublik Armenien angeschlossen. Wie die Gesellschaft am Donnerstag in Göttingen mitteilte, wurden am selben Tag in der Hauptstadt der Region, Stepanakert, vier Armenier beigesetzt, die Opfer von Übergriffen der moslemischen Mehrheit in Aserbeidschan geworden sein sollen.
Das 160.000 Einwohner zählende Gebiet Nagorny-Karabach, dessen Bevölkerung zu 80 Prozent aus christlich/orthodoxen Armeniern besteht, war 1923 unter Stalin dem benachbarten, moslemischen Aserbeidschan zugeschlagen worden. Die Führung in Moskau hatte in den vergangenen Tagen die Bemühungen um eine Beruhigung der Lage intensiviert und drei Politbüro-Kandidaten in die Region entsandt. Ein erstes Ergebnis hatte dieser Schritt bereits am Mittwoch: Der erste Parteisekretär von Nagorny-Karabach, Boris Kewkorow, mußte seinen Posten an einen anderen Armenier, Genrik Pogossian, abtreten. Einem am Donnerstag bekannt gewordenen geheimen „Informationsbulletin“ militanter Armenier zufolge hatte Kewkorow noch am 12. Februar bei einer Parteiversammlung in Stepanakert betont, daß Karabach niemals an Armenien zurückgegeben werde. Nach Informationen der Gesellschaft für bedrohte Völker haben etwa 50.000 Armenier aus den Dörfern um Stepanakert in der Stadt Zuflucht gesucht, nachdem sich die gewalttätigen Übergriffe der Aserbeidschaner gehäuft haben. So sollen Aserbeidschaner armenische Busse angegriffen und Kindergärten und andere Gebäude in armenischen Siedlungen in Brand gesteckt haben. Die meisten Bewohner der Region streikten inzwischen. Einwohner Eriwans hatten in den vergangenen Tagen wiederholt auf den rein friedlichen Charakter der Demonstrationen hingewiesen. Selbst die traditionell der sowjetischen Führung nahestehende gregorianische armenische Kirche, hieß es, habe sich bislang ungewöhnlich zurückgehalten. Der sowjetische Dissident Sergej Grigoriants, Herausgeber der Untergrundpublikation Glasnost, sieht im Wiederaufflammen des armenischen Nationalismus einen entscheidenden „Test“ für Gorbatschow. Wenn es dem Kreml nicht gelinge, eine akzeptable Lösung zu finden, riskiere er „wesentlich schwerere“ Nationalitätenproblemen.
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