: Business as usual
Eine Demonstration wie noch zum letzten Gipfel 1982 in Bonn hatte die belgische Polizei verboten. So taten sich Friedensbewegte– und -forscher aus den USA, Großbritannien, Belgien und der Bundesrepublik zur kritischen „NATO– Gipfel–Beobachtung“ zusammen. Während die Staatschefs der Allianz im abhörsicheren Bunker über die beste Public–Relations– Strategie gegenüber einer kritischer gewordenen Öffentlichkeit feilschten, wurden auf mehreren Veranstaltungen im Pressecenter der EG die harten Fakten der Aufrüstung auf den Tisch gelegt: 1.300 flugzeuggestützte und 380 auf Schiffen und U–Booten in westeuropäischen Gewässern stationierte Cruise Missiles bis Mitte der 90er Jahre sehen die „Modernisierungs“entscheidungen der USA und der NATO seit der NATO–Tagung in Montebello 1983 vor. Das sind fast dreimal soviele Mittelstreckenraketen und Sprengköpfe, wie die 572 landgestützten Pershing II und Cruise Missiles, die laut INF–Vertrag aus Westeuropa verschwinden sollen. Dazu sind zur Nachfolge der Lance–Raketen fast 700 bodengestützte Raketen für das Mehrfachartilleriewerfersystem (ATACMS) vorgesehen. Außerdem 400 155–Millimeter–Artilleriegeschosse, deren Produktion für 1988 auf dem Programm steht. In der Summe bedeutet dies - noch ohne Berücksichtigung neuer britischer und französischer Systeme - die Einführung von 2.680 neuen Nuklearwaffen bis Mitte der 90er Jahre. Dan Plesch, Direktor des Friedensforschungsinstituts „Britisch–Amerikanischer Sicherheitsrat“: „Die Grundsatzentscheidung ist in Montebello gefallen. Vorbei an den Parlamenten der NATO–Staaten setzen die Militärs und Verteidigungsminister der Allianz diese Entscheidung jetzt um.“ Tatsächlich ist bisher in keinem Parlament zwischen Ottawa und Athen entschieden, in den meisten nicht einmal diskutiert worden. Dem US–Kongreß, der die Haushaltsmittel für die meisten neuen Systeme bewilligen muß, werde aber regelmäßig mitgeteilt, „daß die Westeuropäer diese Programme unterstützen“, erklärten Plesch und Tom Longstreth der Presse. Longstreth war lange Jahre als Assistent von US–Senator Edward Kennedy mit Rüstungskontrollfragen befaßt und arbeitet heute als einer der Direktoren der „Föderation amerikanischer Wissenschaftler“ im selben Bereich. „Wenn nach Kohls Besuch in Washington behauptet wurde, über die Modernisierung der Lance–Rakete sei noch nicht entschieden“,so Plesch zur jüngsten Diskussion in der Bundesrepublik, „ist dies mindestens eine Irreführung der Öffentlichkeit. Erforschung, Entwicklung und Produktion der Nachfolgesysteme laufen ungehindert“. Dazu kommt, daß ein Teil der 572 Nuklearsprengköpfe, gegen die die Friedensbewegung so lange angekämpft hat und die auf Grund des INF–Vertrag aus Westeuropa verschwinden sollen, wahrscheinlich zurückkehren wird. Im kalifornischen Lawrence– Livermore–Atomwaffenlaboratorium wird bereits die Wiederverwendung der Sprengköpfe und der Lenksysteme von Pershing II und Cruise Missiles für die neuen Waffensysteme vorbereitet. Ihre Zerstörung sieht der INF–Vertrag nicht vor - auf Drängen der USA, wie Verteidigungsminister Frank Carlucci während der Ratifizierungsdebatte im US–Senat jetzt zugeben mußte. Bruce Kent, Generalsekretär der britischen „Kampagne für nukleare Abrüstung“ und Dirketor des „internationalen Friedensbüros“, versuchte sich an einer zusammenfassenden Beurteilung der aktuellen Situation: „Der Mittelstreckenvertrag war ein erster politischer Erfolg der Friedensbewegung. Die NATO mußte zumindest ihre Rhetorik ändern. Doch wenn wir uns davon einlullen lassen und jetzt die Hände in den Schoß legen, wird sich dieser Erfolg als Pyrrhussieg erweisen.“
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