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„Ich soll sie fragen, wann Sie sich umbringen“

■ Isolde Oechsle–Misfeld, wegen Mordes angeklagte frühere Anwältin des „St. Pauli–Killers“, läßt sich zur Sache aus Fünf Verhandlungstage bei eingeschränkter Gesundheit der Angeklagten führten in ein menschliches Bermudadreieck / Frauenschicksal als wichtigstes Motiv eines gefährlichen Engagements

Aus Hamburg Ute Scheub

Einen schmalen Rücken sehe ich vor mir, auf dem sich ein Kopf mit langen, stumpfblond gewordenen Haaren bewegt; manchmal schüttelt er sich so heftig, daß ich Angst bekomme, er könne wie bei einer Marionette vom dünnen Hals fallen. Die ganze Gestalt, deren Schulterblätter sich knochig unter dem adretten selbstgestrickten Pullover spannen, erweckt den Eindruck, sie könne in sich zusammenfallen. Von der begrenzten Perspektive einer Pressebank im mehrfach gesicherten Gerichtssal aus gesehen, ist die 40jährige Rechtsanwältin Isolde Oechsle– Misfeld, von eindreivierteljähriger Isolationshaft gezeichnet, weniger als ein Schatten ihres früheren Selbst. Als ob sie es nicht mehr weit hätte, den anderen zu folgen: dem Staatsanwalt Wolfgang Bistry, den sie laut Anklage seiner Berufskollegen am 29.Juli 1986 im Hamburger Polizeipräsidium gemeinschaftlich mit ihrem Mandanten Werner Pinzner umgebracht haben soll; der treuen Ehefrau Jutta Pinzner, die sie zum Freitod durch ihren Mann überredet haben soll; schließlich dem Mehrfachmörder Pinzner selbst. Aber weil sie weiterleben will, läßt ihre Lage nur eine Rettungsmöglichkeit zu: überzeugend eine andere Version als die der Staatsanwaltschaft von der Vorgeschichte des Blutbads im Präsidium darzulegen. Denn die Staatsanwaltschaft hat in der Anklage ein Bild von ihr entworfen, das dem durch Theweleits „Männerphantasien“ berühmt gewordenen „Flintenweib“ verdächtig nahe kommt: eiskalt, berechnend, raffiniert und geldgierig habe sie die Lebensgeschichte Pinzner in der Presse vermarktet, die Mordpläne mitgeschmiedet, die Mordwaffe auf dem Kiez besorgt. Ihre eigene Version hat Isolde Oechsle–Misfeld an bislang fünf Verhandlungstagen entwickelt, die aus Rücksicht auf ihren schlechten Gesundheitszustand nur jeweils ein bis zwei Stunden ausmachten. Einiges gab sie dabei schon zu, sei es in eigener Erzählung, sei es in der gestern abgeschlossenen Befragung durch Richter und Staatsanwaltschaft. Sie bestätigte, ihrem von Entzugserscheinungen „geplagten“ Mandanten diverse Male Haschisch, Kokain und Heroin in die Zelle geschmuggelt zu haben. Sie bestätigte auch, die später durch Jutta Pinzner ins Polizeipräsidium geschmuggelte Tatwaffe kurzzeitig in ihrem Büro deponiert und Pinzners Frau in einem Blumentopf versteckt weitergegeben zu haben. Sie berichtete ausführlich, wieviele verschiedene Selbstmordpläne die Eheleute sich ausgedacht hätten. Aber daß dabei auch „ein Staatsanwalt mitgehen sollte“, davon habe sie nichts gewußt. Genausowenig habe sie einen solchen Auftrag von St. Pauli–Boß Ringo Klemm erhalten, wie es in der Anklage heißt. Daß jenes blasse, magersüchtige Häufchen Elend auf der Anklagebank dieses Verbrechen–steuernde Monstrum nicht sein kann, muß eigentlich jedem auffallen. Aber das fast willenlose Opfer einer tiefen persönlichen Verstrickung, wie sie es in ihrer Einlassung darzustellen versucht, ist sie gewiß auch nicht. Dazu wiegen bestimmte Indizien gegen sie zu schwer, und dazu klingt ihre Erzählung oft zu unbeteiligt. Das Verwirrende an ihr ist: Whrscheinlich ist sie beides, die Täterin und das Opfer. Die kalt kalkulierende, erfolgreiche Rechtsanwältin und die folgsame, leidenswillige Ehefrau eines Pinzner vielleicht nicht ganz unähnlichen Mannes. Auch ihr elender Zustand scheint von dieser Doppelgesichtigkeit geprägt: Er ist verteidigungstaktisch raffiniert und doch unabweisbar echt. Dem Anschein nach war sie eine selbstbewußte, starke Anwältin, Jutta Pinzner war eine schwache, mit allen Lebensäußerungen auf ihren Mann fixierte Ehefrau, und doch scheinen beide das Syndrom geteilt zu haben, das eine amerikanische Bestseller– Autorin „zu sehr lieben“ nennt: Liebe als weibliche (Selbst–)aufgabe. Ihre Identifikation mit dem Schicksal von Jutta Pinzner, „das meinem so ähnlich war“, sei jedenfalls das wichtigste Motiv für ihre Engagement gewesen, sagt die Anwältin. Dieser Frau, die mit der Verhaftung ihres Mannes ihren Lebensinhalt verloren hatte und deswegen wie er nicht mehr leben wollte, habe sie doch helfen müssen. Und wenn es stimmt, was sie sagt: daß diesem menschlichen Bermudadreieck niemand entrinnen konnte. Daß sich Mord und Doppelselbstmord also aus sich selbst, aus dieser einmaligen psychischen Verstrickung erklären und keinen äußeren Antrieb in Gestalt von finsteren Kiez– und Koks– Königen nötig hatten. Andere Indizien, wie so manche Äußerung in Jutta Pinzners täglichen Briefen an ihren geliebten „Mucki“, stehen dieser zwar nicht menschlich, aber kriminalistisch harmlosen Version entgegen. Aber ob so oder so, für Außenstehende ist eh kaum nachvollziehbar, wie es zu Szenen wie jener kommen konnte: „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel“, so berichtet die Anwältin über ein Gespräch mit Jutta Pinzner, der sie wie so oft eine Nachricht überbrachte. „Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber ich soll Sie fragen, wann Sie sich das Leben nehmen.“

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