: Die Eruption kollektiver Wut in Belfast
■ Die Eskalation der Gewalt in der letzten Woche in Nordirland untersuchte David Hearst in der britischen Zeitung The Guardian
Die katholischen Ghettos an der Falls und Andersonstown Road liegen nur ein paar hundert Meter von einer Autobahn, die sie von Süd–Belfast ebenso abschneidet wie von Nord–Irland und dem Rest der Welt. Nach den letzten alptraumhaften Tagen könnte man fast von einem eigenen Planeten sprechen. Das nationalistische West– Belfast hatte immer die Atmosphäre eines eigenen Stadtstaats. Viele seiner Einwohner verlassen ihr Viertel niemals, nicht einmal zu einem Einkaufsbummel im Stadtzentrum. Das Viertel gibt ihnen alles - außer einem Job und normalem Leben. Diesen kulturellen Druck, diese Verzweiflung muß kennen, wer den Totschlag am Samstag an den beiden britsihen Soldaten und das Massaker auf dem Milltown– Friedhof einige Tage zuvor verstehen will. Als auf diesem Friedhof die ersten zwei Handgranaten zehn Meter vor mir explodierten, war ich völlig verblüfft von den Reaktionen der Umstehenden, die sich entschlossen dem Attentäter entgegenstürzten. Der Mut der unbewaffneten Jugendlichen war unglaublich; Jungen, die durchaus über Revolver und Handgranaten Bescheid wissen, die aber dennoch vorwärtsstürmten wie bei einer mittelalterlichen Attacke. Die Kraft dieser Eruption kollektiver Wut war kaum zu begreifen; sie explodierte nach Jahren der Trauer und Bitterkeit und entlud sich an einem einzigen Mann... Für die meisten Menschen in Großbritannien gehören solche Szenen in das Reich der Phantasie... So erschien es auch den Millionen Zuschauern in aller Welt bei den Ereignissen des Samstag. Oberflächlich gesehen waren diese Szenen ein moralischer Tiefpunkt. Nicht zu sehen war jedoch das Gewebe von Mentalitäten und Motiven, von Tatsachen und Fiktionen, die zu der Gewißheit dieser schrecklichen Tode führten. Die Republikaner sagen, den „SAS– Männern“, wie sie sie nennen, sei dasselbe widerfahren wie den drei IRA–Leuten in Gibraltar von seiten der SAS. Andere sagen, nach der Erfahrung von Milltown habe niemand daran zweifeln können, daß dies ein neuer Angriff der Sicherheitskräfte auf ein friedliches Begräbnis gewesen sei. Beide Sichtweisen sind völlig un verständlich für jeden, der die Nordirland– Frage nur als Frage von Recht und Ordnung begreift. Beiden liegt jedoch das Wissen darum zugrunde, daß bei diesen Ereignissen zum erstenmal seit 18 Jahren die Polizei weder offen noch verdeckt dabei war. Für eine ganze Generation, die eine solche Situation niemals erlebt hatte, konnte die instinktive Reaktion nur lauten wie die der Jugendlichen in Milltown: Sie nannten den loyalistischen Attentäter „den Bullen“. Daß die beiden unglücklichen Korporale bloße Zuschauer gewesen sein sollen, wird viele der Nationalisten nur zum Lachen bringen, die am Samstag mitansehen mußten, wie jede Nachrichtensendung sich mehr und mehr gegen sie richtete. Es wurde immer der gleiche Augenzeugenbericht benutzt - aber die Passagen, die von dem heranrasenden Wagen handelten, und die beschrieben, wie Dannny Morrison und Gerry Adams versuchten, die Menge zurückzuhalten, traten immer stärker in den Hintergrund. Wir wissen noch nicht, wer für den Tod der beiden Soldaten angeklagt wird und wie die Anklage lauten wird... Aber wir kennen die drei Männer, die starben, als sie sich dem loyalistischen Handgranatenwerfer in Milltown entgegenwarfen. Einer war Kevin Brady, ein IRA–Mann, Danny Morrisons Fahrer und Leibwächter. Brady übernahm kürzlich die Kosten der Ausbildung für ein schwarzes Kind in Südafrika - in einem Land, dessen Ghettomorde der letzten Zeit den Ereignissen des Wochenendes so ähnlich sehen. Der zweite war John Murray, Vater von zwei Kindern. Der dritte war Thomas McErlean, der in den Divis Flats freiwillige Gemeindearbeit machte, der sich zusammen mit seiner Mutter mit der Provisional IRA angelegt hatte, als es um die Bestrafung von Autoknackern ging... Alle drei vertraten eine verschiedene Politik, hatten einen unterschiedlichen Hintergrund und traten für verschiedene Lösungen des Problems ein. Aber sie starben alle aus dem gleichen Grund - und die Welt empfand Sympathie für die Opfer. Am Samstag wurden diese Opfer zu Angreifern - und die Welt empfindet Entsetzen und Abscheu. Deutsch von Meino Büning
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