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Die Grenzen von Glasnost

■ Mit dem Einsatz von Militär ist die Ruhe in Armenien und Berg–Karabach erzwungen worden

Noch immer wartet die armenische Bevölkerung auf ein klärendes Wort von der Parteiführung in Moskau. Doch am Sonnabend, dem Tag, an dem die Antwort Gorbatschows versprochen war, patrouillierten statt dessen Soldaten in Berg–Karabach und Eriwan. Die Bevölkerung reagiert trotz dieser Einschüchterung mit passivem Widerstand. Die Unterdrückungsmaßnahmen sind nur ein Deckel auf dem Topf, der sich erhitzt und zur Explosion führen kann. Der Konflikt schwelt weiter.

„Es sind keine Kinder draußen, keine Autos auf den Straßen, es ist ganz ruhig“, beschreibt der sowjetische Bürgerrechtler Alexander Ogorodnikow die Lage in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Auch im Hauptort der Region Berg–Karabach, Stepanakert, soll ein gespannte Ruhe eingekehrt sein. Die Einwohner hätten sich in ihre Häuser zurückgezogen und auch dort das Konzept der „toten Stadt“ befolgt, zu dem das Karabach–Komitee in Eriwan am Freitag aufgerufen hatte. „Die Straßen und Plätze wurden einfach der Polizei und den Soldaten überlassen.“ Die Zufahrtswege in die armenische Hauptstadt wurden für Privatautos gesperrt. Aus den offiziellen Berichten in den Zeitungen und im Fernsehen geht auch hervor, daß es im Stadtbild von Eriwan ruhiger als gewöhnlich zuging, doch fiel die Wertung dieses Tatbestands in den Medien anders aus. Für die amtliche Nachrichtenagentur TASS beweist die relative Ruhe nämlich, „daß die provokativen Aufrufe der Nationalisten“ von der Bevölkerung nicht unterstützt worden seien. Das sowjetische Fernsehen zeigte am Samstag abend Aufnahmen von Spaziergängern, die angeblich am gleichen Tag in Eriwan gemacht worden waren. „Diese Wertung ist natürlich vollkommen falsch“, erklärte ein armenischer Exilant gegenüber der taz. „Nach meinen Informationen sind über 60.000 Soldaten allein nach Eriwan eingerückt und kontrollieren die Stadt. Was sollen denn die Menschen da tun, als sich still zu verhalten? Mit der Militärpräsenz ist die Auseinandersetzung allerdings nur verschoben. Zumindest in Karabach wird der passive Streik weitergehen.“ Damit rechnet offensichtlich auch die Parteiführung. In der Sonntagsausgabe berichtet die Prawda, daß die bisherigen Streikaktionen die Industrie in der Regionshauptstadt Stepanakert nahezu lahmgelegt haben. „Was die Menschen jetzt aber neben den ständigen Patrouillen und den Hubschraubereinsätzen am meisten bedrückt“, so der armenische Bürgerrechtler, „ist die ständige Präsenz des Geheimdienstes. Zur Zeit werden fast alle Telefone abgehört, und wenn es diesen Herren und Damen gefällt, einfach unterbrochen.“ Am Wochenende war es nicht mehr möglich, telefonisch Kontakt mit Mitgliedern des Karabach–Komitees aufzunehmen. Der Journalist Andrej Bawizki und Mitarbeiter der unabhängigen Zeitschrift Glasnost erklärte in Moskau, daß die vier armenischen Aktivisten Parjur Arikjan, Mofses Georgisjan, Georg Mirsojan und Mechak Gabrieljan am Freitag verhaftet worden seien. Radio Moskau meldete schon am Freitag, daß die selbsternannten „Aktivistengruppen sich selbst aufgelöst hätten“. Offenbar sind die Parteiorgane Armeniens angewiesen worden, das Karabach–Komitee aufzulösen. Dennoch gelang es dem Komitee noch am Freitag, Flugblätter zu verteilen, auf denen, wie selbst TASS meldete, die Bevölkerung informiert wurde, daß man nicht bereit sei, die „Bewegung einzustellen“. Den Vorwurf, daß Glasnost gerade in Krisenzeiten nicht funktioniere, will die Zeitung des Kommunistischen Jugendverbandes, die Komsomolskaja Prawda offensichtlich entkräften. Am Samstag druckte die Zeitung eine Kritik an der Führung der KPdSU ab. Sie unterdrücke die Diskussion über die Wünsche der Armenier, hieß es in dem Kommentar. „Die Armenier warten auf eine Antwort. Und je länger diese Antwort hinausgezögert wurde, desto größer wurden, wie uns die letzten Tage im Februar gezeigt haben, die Menschenmengen“ in Eriwan. Und die warten tatsächlich immer noch auf die versprochene Antwort. Erich Rathfelder

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