: Nur halber Rückzug der Sowjets?
■ Entgegen Beteuerungen Schewardnadses, am Truppenrückzug Mitte Mai festzuhalten, verdichten sich Hinweise auf den Ausbau einer Bastion im Norden Afghanistans
Von Erich Rathfelder
Berlin (taz) - Wird der vollständige sowjetische Truppenabzug nach dem Hin und Her bei den Verhandlungen in Genf tatsächlich termingemäß durchgeführt? Die Sowjetunion und die afghanische Regierung haben die Absicht, ihr „Aktionsprogramm“ weiterhin zu verwirklichen, hieß es am Dienstag in einem Bericht über den Blitzbesuch von Außenminister Schewardnadse in Kabul in der sowjetischen Parteizeitung Prawda. Verstand man unter dieser Formulierung bisher den Willen der Sowjetunion, auch ohne Einigung in Genf ihre Truppen abzuziehen und das afghanische Regime seinem Schicksal zu überlassen, so verdichten sich nun Hinweise, daß es sich doch nur um einen Teilabzug handeln könnte. Die Spekulationen nähren sich aus der Tatsache, daß die afghanische Regierung am Wochenende per Dekret die Schaffung einer neuen Provinz entlang der Grenze zur Sowjetunion bekanntgegeben hat. Aus Teilen der Provinzen Balch, Farjab, Jaunse Jan und Samangan wurde eine neue Verwaltungseinheit mit dem Namen Sare Pul gebildet. Parallel zu den Parlamentswahlen, die am Dienstag begannen und bis zum 14.4. andauern , sollen die Bewohner der Provinzen Balch und Jaunse Jan über die neue Verfassung von Sare Puls abstimmen, die letzte Woche vorgelegt wurden. Nach Ansicht von Vertretern des Widerstandes ist diese Maßnahme Teil einer Politik, die darauf abzielt, Afghanistan nach ethnischen Gesichtspunkten zu teilen. Im Norden des Landes leben vorwiegend Usbeken, Tadschiken und Turkmenen, während im Süden die Paschtu die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen. Die Befürchtungen werden dadurch verstärkt, daß schon am 13. März der stellvertretende Außenminister Najibullah Masir zum Verantwortlichen für das nördliche Afghanistan ernannt wurde, eine Position, die es in keiner anderen Region des Landes gibt. Im Falle einer Teilung, so heißt es aus Islamabad, könnte Ministerpräsident Sultan Ali Kischtmand an die Spitze eines Nordafghanistan berufen werden. Die Sowjetunion hat gerade an den nördlichen Provinzen besonderes Interesse. Schon vor der Zeit der Besatzung noch unter König Sahir Shah hatten die Sowjets die bedeutenden Erdgasvorkommen dieser Region ausbeuten dürfen. Seither wurden mehrere Milliarden Rubel in mehr als 40 industrielle Großprojekte investiert. Heute wird das gesamte Erdgas in das sowjetische Industriezentrum Duschanbe geleitet. Die Eisenvorkommen der Region gelten mit einem Eisenanteil von 65 Prozent in internationalem Maßstab als ausgesprochen hochwertig. Erdöl und Gold sind weitere Bodenschätze. Werden diese Interessen nun höher bewertet als eine politische Lösung des Konflikts?
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