: AnwältInnen–Kritik am Strafrecht
■ Linke JuristInnen beim 12.Strafverteidigertag in Heidelberg gegen Ausweitung des Strafrechts in Sachen Umwelt, Sexualität und Wirtschaft / AnwältInnen fordern Abschaffung des Paragraphen 129a
Heidelberg (taz) - Erstmals in der Geschichte des Strafverteidigertags haben sich die AnwältInnen am Wochenende die Frage der Ausweitung des materiellen Strafrechts vorgenommen. Rund 400 TeilnehmerInnen befaßten sich dabei in Heidelberg vor allem mit dem Umweltschutz, der Wirtschaftskriminalität und dem Sexualstrafrecht. Schon im Einleitungsreferat warnte der Bielefelder Professor Alexis Albrecht vor einer weiteren Ausweitung des Strafrechts in diesen Bereichen. Die in den letzten zwölf Jahren erfolgten Verschärfungen des Wirtschaftsstrafrechts seien „juristische Lachnummern“, die zu keiner nennenswerten Bekämpfung der großen Wirtschaftskriminalität beigetragen hätten. Auch bei Umweltstraftaten werden allenfalls kleine Leute erwischt. Die Verantwortlichen aus der Industrie, die jährlich 17 Millionen Tonnen Chemikalien allein in den Rhein leiteten und die damit die Trinkwasserversorgung von über 20Millionen Menschen gefährdeten, gingen nicht nur straffrei aus, sondern erfreuten sich noch der Genehmigung der zuständigen Behörden. Beim Umweltstrafrecht, so das Fazit einer Arbeitsgruppe, wirke die Gesetzgebung allenfalls symbolisch. Wüßten die Betroffenen, daß zwar jemand bestraft werden kann, wenn er beim Ölwechsel Öl ins Erdreich laufen läßt, daß aber ein Geschäftsführer eines Chemiekonzerns nicht bestraft wird, wenn von seinem Unternehmen eine ökologische Katastrophe verursacht wird, so verliere die Justiz vollends an Ansehen. An die Stelle des Rufes nach schärferen und umfassenderen Strafgesetzen müsse die gesellschafltiche Bewältigung der Probleme treten. Man forderte daher die Abschaffung des Umweltstrafrechts, wenn sich nicht die Verfolgungspraxis ändere. Solange ein Unternehmen nicht beweisen kann, daß Abfalleinleitungen ins Wasser unschädlich sind, dürfe es nicht mehr einleiten. Im Rahmen der geplanten Änderungen des Sexualstrafrechts fordern die VerteidigerInnen die Einführung des Tatbestandes der Vergewaltigung in der Ehe. Die Formel des „minderschweren Falls“ einer Vergewaltigung solle abgeschafft werden. Gleichzeitig soll die Mindeststrafe von derzeit zwei auf ein Jahr reduziert werden. Keine einhellige Antwort fand man auf die Frage, ob das Opfer, die mißhandelte Frau, das Recht erhalten solle, von sich aus ein Verfahren zu beenden. Einhellig lehnten die AnwältInnen das in Bonn geplante „Artikelgesetz“ ab, mit dem zusätzliche Tatbestände geschaffen werden sollen, die auf die Kriminalisierung politischer Meinungsäußerung zielen. Es müsse vielmehr auch der Paragraph 129a des Strafgesetzbuchs abgeschafft werden, forderten sie nach einem Bericht des Berliner Anwaltes Ströbele zur Entwicklung des politischen „Äußerungsstrafrechts“. Beim Thema Aids und Strafrecht waren sich die AnwältInnen einig, daß Strafe kein Mittel sei, die Krankheit und deren Ausweitung zu bekämpfen. Kriminalisierung behindere nur die Prävention. Jonny Eisenberg
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