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Europäische Erstsemesterfete

Am Wochenende begann Berlin als Kulturstadt Europas 1988 / Ein Potpourri mit Werbeblöcken / Die ersten Millionen sind verpulvert / Zitable Politiker-Statements  ■ Von G. Goettle und S. Vogel

Berlin (taz) – Die U-Bahneingänge sind wieder dekoriert. Der Berliner Bär rechts, schwarz-rot- gold links oder umgekehrt, je nach Standpunkt, zur Selbstbedienung für fahnenverarmte Nationalisten und Fußballfans – an ihren Wimpeln sollt ihr sie erkennen. So feiert man in Berlin Feste: Kulturstadt Europas 1988. Am Freitagabend gings los. Edith Clever (gen. Flickenschild) vier Stunden im Hebbeltheater, gleichzeitig, viereinhalb Kilometer Luftlinie entfernt, das Nederlands Dans Theater in der Volksbühne, irgendwo im hintersten Neukölln Improvised Music, im halbfertigen Kammermusiksaal der Philharmonie das Scharoun- Ensemble und schließlich als fünfter Punkt im Fadenkreuz Gewobenes und Gestricktes: das Dressaster von Claudia Skoda im Hamburger Bahnhof. Gala mit Rumstehen ohne Getränk, die Wirbelsäule bohrt sich langsam in Richtung Kopf, Applaus vom Band, in der Pause klaustrophobische Teststrecke für das Freibier (hier bedient Sie die Firma Schultheiß). Pulikumsquälen gehört zur Mode – wer 50 Mark dafür bezahlt, ist zwangsläufig Maso. Häßliche Models und beruhigtes Gähnen unter den Damen Zuschauerinnen: Im Zweifel gehen wir immer alle als Avantgarde durch. Auf der Hängebrücke über der ehemaligen Bahnhofshalle beginnt die Menschheitsgeschichte noch einmal von vorne: im Mutterkuchen, aus dem sich ein androgynes Wesen mit fleischfarbener Strumpftitte aus der transparenten Plastikfolie herauspellt. Mit Orgeln und Quietschenten hüpft es sich aus frischgestärkten Rüschenbergen in die Volants sündiger Putzigkeit. Dann flugs in die stürmische Kindheit. Mit Folklore und Zigeunerlook lockt die schönblöde Carmen fürs Wohnzimmer. Programmunterbrechung für den Werbeblock: E-88- Hemdchen, 100 Prozent Baumwolle, farbecht, kochfest. Babydoll in Rimini übt den Flirt mit dem Bodyneger, wenn die Hommage an Rudi Gernreich anstakst. Nun reißt der dramaturgische Faden, was auch die Imagetransfers über Demo-Sakkos und Guerilla-Safari-Jerseyanzüge, Popklamotten bis zum Obenohne-Badeanzug (gestrickte braune Unterhose mit Nierenschutz und V-Trägern) nicht wettmachen können. Danach Pause mit Livekontakten. Nichts ist langweiliger als ernstgemeinte Mode. Wenn die ersten eineinhalb Millionen verpulvert sind (bis Jahresende sollen es 55 werden), ist es Zeit, eine Pommes bude aufzusuchen. Samstag morgen, nächste Runde im Tempodrom-Zirkuszelt. Sacht rieselt draußen der Schnee, und alle sind sauer. Niemandes Einladungsliste zum „Kulturfrühschoppen“ von Melina Mercouri wird so recht berücksichtigt. So verliert sich ein Häufchen von vielleicht einem Drittel der angekündigten „1.600 europäischen Künstlern und ihren Kollegen“ schlotternd im Halbdunkel des Tempodroms, löffelt schlabbriges Rührei, schmiert mit Nürnberger Würstchen im Senf rum und hört sich blöde Kanzlerwitze vom lauen „Tornado“ Günther Thews an. Einzig Rosa von Praunheim weiß zu gefallen – ganz Weltmann trägt er eine Neo- siebziger-Jahre-Hose mit Schlag. Dazu spielt die Combo als wär sie noch von der Nacht übriggeblieben. In der Berliner Abendschau des Regionalfernsehens sah die Veranstaltung indessen richtig nett aus. Das ist schließlich die Hauptsache: Gemütlichkeit im Zeitalter ihrer technischen Produzierbarkeit. Neuer Kostüm- und Ortswechsel. Mittags geht Mann gedeckt in die Große Orangerie des Schlosses Charlottenburg, um tiefgründelnde Samstagsreden offiziellster Natur zu hören. Aus dem Hausschatz europäischer Kulturgeschichte bedienen sich: der Regierende Bürgermeister von Ber lin Eberhard Diepgen, Seine Exzellenz der Ministerpräsident des Königreiches Spanien Herr Felipe Gonzalez Marquez sowie der Bundesminister des Auswärtigen Herr Hans-Dietrich Genscher. Es blecht die vom letzten Jahr übriggebliebene „Fanfare für Berlin“, und schon geht es los mit all den Zitaten von „großen“ Dichtern und Denkern, mit den „Herzen“ der unteilbaren Nation und aller Europäer, mit all den „tiefgreifenden ..“ „Verwurzelungen ...“, dem „Symbol“, dem „besten Ort für ..“, dem „Jugend begeistern ...“, dem „Identität bewahren ...“, den bedenklichen und den optimistischen Tönen in den Stimmen der Herren. Schließlich Herr Gonzalez: „Tut nur so, als ob ihr an die neue europäische Geschichte glauben wollt, und ihr werdet an sie glauben.“ Gruß, Schluß, diesmal ohne Büffet. Nur die Nachrichtenagenturen sind auf ihre Kosten gekommen bei all den Statements für jede Gelegenheit. Abends: Das Eröffnungsfest in der Kongreßhalle umsonst und drinnen „in Zusammenarbeit mit den Firmen Kaisers Kaffee Berlin, Schultheiß Brauerei AG, Coca Cola/Firma Winter, Mövenpick, Winfried Gaßmann und Heinrich Gerresheim“. „Könnten Sie mir bitte ein Glas Sekt geben?“ – „Sie möchten ein Glas Kupferberg Gold?“ Die 2.000 über die Theaterkassen rekrutierten original „Berliner und Berlinerinnen“ kommen pünktlich um acht Uhr im kleinen Schwarzen, Silbernen oder Roten zum Promis-Gucken, vorrätig im Verhältnis eins zu eins. Wollten Sie sich nicht schon immer mit berühmten Künstlern um die Pfirsichbrause prügeln? Nur die Video-Ausstattung in den verschiedenen Räumen des Nicht- Geschehens läßt zu wünschen übrig. Dann hätte man live im Fernsehen die angeblich von Helmut Baumann vom Theater des Westens inszenierte Gesamt-Show vielleicht doch noch genießen können. Der Gebührenzähler rattert: wieder eine Million weg.

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