Kniefall

■ Zum rechtsradikalen Wahlerfolg in Frankreich

Die Pariser Arbeiter haben es vorgezogen, die Hundertjahrsfeier von 89 mit dem Kniefall vor der Gleichgültigkeit zu feiern“, schrieb Friedrich Engels 1888 an Paul Lafargue. Zweihundert Jahre nach der französischen Revolution fallen die Franzosen in nicht geringerer Gleichgültigkeit vor die Füße eines rechtsradikalen Treters. Weil die Revolution vergessen ist, weil die fünfte Republik ihre historischen Referenzen - die Resistance und die Entkolonialisierung - aufgegeben hat, weil die französische Politik zum geschichtslosen Management der Nation verkommen ist, erlebt Frankreich heute den „großen Elan einer nationalen Wiedergeburt“ (Le Pen). Als die Sozialisten sich bekehrten und die ideologische Opposition ein für allemal verließen, als die Gaullisten ihren Vater vergaßen und Reagans Liberalismus zu huldigen begannen, als die Kommunisten sich einbunkerten und sich von Gorbatschow nicht wecken ließen - alles so geschehen in den achtziger Jahren - , da schien Frankreich befreit von allen Urzeitübeln, endlich aufgestiegen zu einer modernen Nation, die nunmehr dem Fortschritt, der Technologie und allen Weltraumwundern gewachsen sein würde. Doch die Herrscher und Meinungsmacher träumten nicht den gleichen Traum wie ihr Volk. An den Rand gedrängt waren diejenigen, die weiterhin an Frankreichs koloniale Größe und missionarische Aufgabe glaubten, die verdrängten, aber nicht bewältigten, und heute in Neukaledonien auf Rache sinnen. Verloren diejenigen, denen der Fortschritt nicht zur Hilfe kam: zweieinhalb Millionen Arbeitslose, eine Million neue Arme. Le Pen hat sie getreten und führt sie heute an. Fünfzehn Prozent der Stimmen gewann Le Pen, gerade ebensoviel, wie die faschistische „Parti social francais“ in den dreißiger Jahren zur Hochzeit des europäischen Faschismus bei Abgeordnetenwahlen in Frankreich erreichen konnte. Damals vereinte sich die Nation zur Volksfront gegen die Gefahr von rechts. Heute versuchen Sozialisten und bürgerliche Rechte gleichermaßen, auf taktischen Schleichwegen aus dem „Phänomen Le Pen“, wie sie zu sagen pflegen, Profit zu schlagen. Mit Hilfe Le Pens will Mitterrand das bürgerliche Lager aufspalten. Mit Hilfe Le Pens will Chirac für den zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen eine rechte „anti–sozialistische“ Mehrheit im Lande formen. Beide spielen mit dem Feuer. Sie spielen, weil sie ideologisch nicht erwidern können. Im Wahlkampf haben sie ihr Image gepflegt, volksnah gesprochen und TV–Shows zelebriert, weil sie dachten, die politische Praxis würde sich heute darin erschöpfen. Sie übersahen, daß ihnen der rechtsradikale Nebenbuhler im Fernsehen und auf der Wahlkampfbühne überlegen war, sie übersahen vor allem, daß Le Pen - anders als sie - eine Ideologie zu verkaufen hatte, die er auf das historische Fundament der Nation aufbauen konnte. Der erste Mai war in Frankreich bis heute das Fest der Arbeiter, der die Volksfront ehrte, die ihn als Feiertag einführte. In diesem Jahr wird erstmals Le Pen den ersten Mai mit einer Massenkundgebung an sich reißen. Die Antwort kann nicht mehr aus dem Elysee–Palast kommen. Das republikanische Gedächnis hat sich verkrochen. Gleichgültigkeit, nach hundert, nach zweihundert Jahren. Georg Blume