: Ernst Albrechts letztes Aufgebot
■ Zusammen mit den SPD–regierten Bundesländern hat Niedersachsen gestern die „reichen“ CDU/CSU–Länder des Südens überstimmt / Niedersachsen ist vom „Aufsteigerland“ zum Schlußlicht mit der höchsten Arbeitslosenrate geworden
Aus Hannover Jürgen Voges
Eine seit der Bonner „Wende“ einmalige Koalition hat gestern im Bundesrat die von Niedersachsens Ministerpräsident Ernst Albrecht eingebrachte „Sozialhilfeinitiative“ beschlossen. Neben den vier SPD–regierten Bundesländern stimmten auch die nördlichen CDU–Länder für den Gesetzentwurf. Im Landtagswahlkampf vor zwei Jahren hatte Ministerpräsident Albrecht noch mit der Parole vom „Aufsteigerland Niedersachsen“ geworben. Doch als vor dem letzten Weihnachtsfest seine Staatskanzlei zum Jahresschluß wiederum eine Pressemitteilung unter dem Titel „Aufsteigerland“ produzierte, da genügten vier Anrufe eines dpa–Redakteurs, um den Regierungssprecher der Verfälschung von Arbeitsmarkt– und Wirtschaftsdaten zu überführen. Die Mitteilungen aus Arbeitsmarkt und Berufsforschung der Nürnberger Bundesanstalt verzeichnen nämlich für das Landesarbeitsamt Niedersachsen–Bremen die höchste Arbeitslosigkeit, für Niedersachsen das niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigem. Die Bezirke mit der höchsten Arbeitslosenzahl liegen in diesem Bundesland. Einen „Aufstieg“, eine Arbeitsplatzbilanz über dem Bundesdurchschnitt, hatte Niedersachsen nur in den ersten dreieinhalb Jahren der Regierung Albrecht geschafft, seit der Jahreswende 1979/80 liegt es kontinuierlich darunter. Für seinen Landeshaushalt hatte Albrecht allerdings jahrelang einen Nothelfer: Niedersachsen ist das einzige Bundesland, wo in nennenswertem Umfang Erdöl und vor allem Erdgas gefördert wird. In den Jahren hoher Erdöl preise verschaffte der Förderzins dem Land zusätzliche Einnahmen von bis zu 2,1 Milliarden DM, immerhin acht Prozent des gesamten Landeshaushalts. Doch 1986 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß der Förderzins voll in den Länderfinanzausgleich einzubeziehen sei, und inzwischen wurde er durch den gefallenen Weltmarktpreis für Erdöl als Einnahmequelle ohnehin bedeutungslos. Ernst Albrecht verlangte in den Verhandlungen um den Finanzausgleich immer wieder Kompensationen für seine Einnahmeausfälle und verband dies mit Drohungen in Richtung Steuerreform. Das Ergebnis war eine Erhöhung der Bundesergänzungszuweisungen an die finanzschwachen Länder, was Niedersachsen allerdings nur zwischen 200 und 300 Millionen jährlich mehr in die Kassen bringt. Schon im vergangenen Jahr mußte die Landesregierung ein rigoroses Sparprogramm beschließen, das spektakuläre Proteste vor allem der Studenten, aber auch der Arbeitnehmer des Öffentlichen Dienstes zur Folge hatte. Weitere Sparrunden schienen unvermeidlich, und mit Blick auf die Landtagswahl 1990 verwandelte sich „Aufsteiger“ Albrecht kurzentschlossen zum Vorkämpfer der finanzschwachen Länder. Eine finanzielle Entlastung von 700 Millionen DM jährlich soll Albrechts Sozialhilfeinitiative jetzt für Niedersachsen bringen, für Nordrhein–Westfalen wären es 1,7 Milliarden und immerhin noch 500 Millionen für Berlin. Albrecht hat nun gleichzeitig mit der Steuerreform seinen Gesetzentwurf in den Bundesrat eingebracht und zudem beantragt, daß die Einnahmeausfälle der Länder durch die Steuerreform insgesamt - wie von Kohl einst zugesagt - 25 Milliarden nicht übersteigen dürfen. Doch öffentlich wagt der Ministerpräsident nicht, gegen die Steuerreform Front machen. Offen ist, was aus Albrechts Abstimmungssieg in der Länderkommune wird. Die niedersächsischen CDU–Bundestagsabgeordneten weigern sich bisher, damit zu drohen, Albrechts–Sozialhilfe– Plänen zusammen mit der SPD zu einer Mehrheit im Bundestag zu verhelfen. Verärgerung löste dies in der CDU–Landtagsfraktion aus, und es hieß, daß niedersächsische CDU–Bundestagsabgeordnete „wohl schon ein Startloch für die neunziger Jahre scharren“ würden. Bei einem Scheitern der Sozialhilfeinitiative drohen dem niedersächsischen Landeshaushalt in den nächsten Jahren Rekorddefizite; Ernst Albrechts Chancen für die Landtagswahl 1990 würden ins Bodenlose sinken.
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