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Polen: Streikende trotzen der Gewalt

■ In Nowa Huta wird auch nach dem Überfall der Miliz weitergestreikt / In der Gdansker Lenin–Werft wurde mit dem Angriff der Repressionskräfte noch am Abend gerechnet / Interview mit Walesa auf dem umstellten Gelände / Regierung fordert Sondervollmachten

Warschau (afp/dpa/rtr/ap/taz) - Ungeachtet des blutigen Polizeieinsatzes vom Vortag haben rund 12.000 Arbeiter im polnischen Stahlwerk von Nowa Huta ihren Streik am Freitag fortgesetzt. „Unser Ausstand geht weiter. Wir kämpfen bis zum Ende“, kündigte der Streikführer Andrzej Szewczuwaniec in einem Kommunique an. Nachdem die „Zomo“, Sondereinheiten der Miliz, das Werk am Donnerstag gestürmt und zehn von 16 Mitgliedern des Streikkomitees festgenommen hatten, bildeten die entkommenen sechs Mitglieder, unter ihnen Szewczuwaniec, ein neues Streikkomitee. Szewczuwaniec berichtete Freunden, während des „Zomo“–Einsatzes habe er sich stundenlang unter der Achse eines Eisenbahnwaggons versteckt. Danach sei er durch die Abteilungen gegangen und habe einen Protestmarsch organisiert, der mit einem neuen Einsatz der Sondermiliz zerschlagen worden sei. Die Forderungen der Streikenden sind seinen Angaben zufolge dieselben geblieben: Lohnerhöhungen, gewerkschaftlicher Pluralismus und die Wiedereinstellung der Arbeiter, die wegen gewerkschaftlicher Tätigkeit entlassen worden waren. Zudem fordern sie nun die Freilassung aller Arbeiter - nach offiziellen Angaben 38 -, die am Donnerstag festgenommen wurden. Der Direktor des Stahlwerks gab am Freitag im polnischen Rundfunk bekannt, die Belegschaft werde ab sofort eine Lohnerhöhung von 10.500 Zloty erhalten, was einer Anhebung um durchschnittlich 25 Prozent gleichkommt. Die Streikenden hatten angesichts der enormen Teuerung der letzten Monate 50 Prozent gefordert. In der Gdansker Lenin–Werft wurde bei Redaktionsschluß mit der Erstürmung des Lenin–Werks noch am Freitag gerechnet. In einer aus dem Schiffsbaubetrieb geschmuggelten Erklärung teilten die etwa 2.000 Besetzer mit, Repressionskräfte befänden sich bereits innerhalb des Werftgeländes, und Geheimpolizei habe im Verwaltungsgebäude Stellung bezogen. Arbeiterführer Lech Walesa, der der taz auf dem besetzten Gelände ein Interview gab - der Interviewer wurde gerade noch rechtzeitig herausgeschmuggelt -, kündigte an, im Falle eines Polizeieinsatzes werde er als letzter das Gelände verlassen. In der Nacht zum Freitag wurde eine Erklärung des Werftdirektors über Lautsprecher verlesen, in der dieser die Arbeiter ultimativ auffordert, das Gelände zu verlassen. Andernfalls werde man zu „anderen Maßnahmen“ greifen. Vor den Toren der Werft waren starke Ordnungskräfte aufgezogen, die den bestreikten Betrieb von der Außenwelt abriegelten. Die Regierung hatte zuvor die Aussperrung erklärt und Demonstrantengruppen, die sich vor den Werkstoren aufhielten, auseinandergetrieben. Über die Hälfte der 12.000 Arbeiter der Lenin–Werft befinden sich seit Montag im Ausstand. Neben Lohnerhöhungen und Wirtschaftsreformen verlangen sie auch die Wiederzulassung einer Betriebsgruppe der Fortsetzung auf Seite 2 verbotenen Gewerkschaft Solidarnosc, die auf der Lenin–Werft im Jahre 1980 aus der Taufe gehoben worden war. In der Hafenstadt Szczecin und in umliegenden Bezirken ist nach Angaben aus Oppositionskreisen ein Transportarbeiterstreik schon nach wenigen Stunden zusammengebrochen, nachdem die Behörden Lohnerhöhungen angeboten haben. Die polnischen Bischöfe haben am Freitag das Scheitern der Mission ihrer Vermittler zur friedlichen Beilegung der Streiks in Nowa Huta und Gdansk bedauert. In einer in Warschau veröffentlichten Erklärung wirft das Sekretariat des Episkopats den Behör den vor, in Nowa Huta zu einem Zeitpunkt mit Gewalt eingegriffen zu haben, als die Verhandlungen zwischen Werksleitung und dem Streikkomitee noch andauerten. Die polnische Regierung will ihr Reformprogramm mit Sondervollmachten gegen alle Widerstände durchsetzen. Ein Gesetzentwurf, der am 11.Mai im Parlament behandelt werden soll, stellt alle Proteste, auch Streiks, unter Strafe. Zudem erlaubt er der Regierung, Preis– und Lohnkontrollen zu erlassen und die Betriebe auf Reformkurs zu zwingen. Die Sondervollmachten sollen bis zum Jahresende gelten. Im einzelnen sieht der Entwurf vor, das Tarif– und Streikrecht von 1982 außer Kraft zu setzen, das in dem Gesetz zur Bildung des Gewerkschaftsbundes OPZZ enthalten ist. Der OPZZ wurde Nachfolger des im Dezember 1981 unter Kriegsrecht verbotenen unabhängigen Gewerkschaftsbundes Solidarität. Wer Streiks organisiere, solle mit einem Jahr Haft bestraft werden. Dasselbe gilt für Organisation und Durchführung „jeder anderen Form des Protestes“. Die Gesetzesvorlage stand am Freitag auf der Tagesordnung des Parlamentbeirates für Gesellschafts– und Wirtschaftspolitik. Der OPZZ, der seit 1982 nur ein einziges Mal mit Streik gedroht hatte, verurteilte die Suspendierung des Streikrechts. Dieser „schwere Schlag“ werde die Organisation daran hindern, die Reformen weiterhin zu unterstützen, sagte der OPZZ–Vorsitzende Alfred Miodowicz am Freitag in Warschau. Falsche Entscheidungen in der Preis– und Lohnpolitik hätten den Markt ruiniert und die Inflation angeheizt, sagte Miodowicz, der zugleich dem Politbüro der regierenden PVAP angehört.

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