: Kleinkrieg bei der Versorgung der Lenin–Werft
■ Trotz eines dichten Polizeikordons um die besetzte Lenin–Werft leiden die Streikenden keinen Hunger / Auf verschiedensten Wegen kommen Hilfsgüter durch / Schon zweimal sprach Lech Walesa im Fernsehen - nicht ganz legal
Aus Gdansk K.Bachmann
Nachts herrscht gespannte Ruhe im Pfarrgebäude der Gdansker Brigittenkirche. Zur Zeit ist die Pfarrei von St.Brigitten der Mittelpunkt des Widerstandes außerhalb der Werft. Nachts ist das Haupttor geschlossen; junge Helfer der Pfarrei überwachten pausenlos das Gelände. Man fürchtet Provokationen des Sicherheitsdienstes. Über Telefon wird sofort informiert, wenn die vor der Werft stationierten Zomo–Einheiten angreifen sollten. Dann werden innerhalb von Minuten sämtliche Glocken von Gdansk läuten und die Bevölkerung informieren. In dieser Nacht bleibt es ruhig. Tagsüber ist es in der Pfarrei wesentlich lebendiger. Am zweiten Streiktag wurde dort eine Hilfsstelle für die Streikenden eingerichtet. „Am Anfang“, berichtet Molgosia von Wolnosc i pokoj, die die Hilfssendungen koordiniert, „haben wir die Versorung mit Lastwagen organisiert, die in die Werft eingefahren sind.“ Dann blockierte die Miliz die Werft und man mußte sich etwas Neues einfallen lassen. Inzwischen hat die Pfarrei einen Kurierdienst eingerichtet; Ortskundige, vor allem jugendliche Helfer bringen Lebensmittel, Medikamente, Kleidung und Decken durch den Polizeikordon. Fast stündlich gehen Transporte ab. „An Hunger leiden die in der Werft längst nicht mehr“, grinst Malgosia, „wir kriegen inzwischen schon Bestellungen aus der Werft für neue Hosen mit genauen Angaben über Farbe und Größe.“ Weitergegeben werden auch Kassetten und Papier für die in der Werft ausharrenden Journalisten. Ab und zu werden auch Korrespondenten durchgeschmuggelt, nicht immer mit Erfolg. Am Dienstag nahm die Polizei auf einen Schlag zehn Auslands–Korrespondenten und ein Mitglied des englischen Oberhauses fest, als sie aus der Werft kamen. Für die Ausländer ist das nur insofern nachteilig, als sie dabei ihre Filme und Notizen verlieren und einige Stunden auf einem Milizkommissariat festsitzen. Wesentlich unangenehmer kann es für die Jungs und Mädchen der Pfarrei werden, wenn sie von einem Zomo–Kommando erwischt werden. In der Nacht von Montag auf Dienstag geschah dies einem Kurierpaar. Das Mädchen und der Junge wurden von den Polizisten mit Knüppeln zusammengeschlagen und mit dem Kopf auf den As– phalt geschlagen, bis sie das Bewußtsein verloren. Ein anderer Kurier, der heute morgen aus dem Arrest entlassen wurde, berichtete, er habe beide blutüberströmt in den Zellen liegen sehen. Zur Zeit befinden sich beide noch in Polizeigewahrsam. „Leider“, sagt ein Kurier, „erzählen manche zuviel über die Schlupflöcher - und das kriegen dann Spitzel mit, die sich außerhalb, aber auch innerhalb der Werft aufhalten. Dann organisiert die Miliz Fallen an diesen Stellen.“ Inzwischen ist die Versorgung der Streikenden nicht mehr nur von den Kurieren abhängig. Immer mehr Anwohner der Werft, die unbehelligt durch den Polizeikordon kommen, melden sich in der Pfarrei und bieten ihre Hilfe an. So gelangen kiloweise Hilfsgüter in die Werft, indem sie von den Anwohnern über Mauern, von Balkonen oder aus Fenstern geworfen werden. Inzwischen schließen sich auch ganze Betriebe den Hilfsaktionen an, stellen Material zur Verfügung, sammeln Geld unter der Belegschaft. Seit dem Beginn des Streiks wurden über vier Tonnen Hilfsgüter in die Werft transportiert. Eine amerikanische Tageszeitung berichtete, eifrig zitiert von der Parteipresse, die Einwohner Gdansks stünden dem Streik gleichgültig gegenüber, distanzierten sich gar. „Wir haben hier einen anderen Eindruck“, meint Malgosia, „natürlich sind diejenigen am aktivsten, die ein Familienmitglied in der Werft haben. Aber es kommen auch Rentner her, die ihr ganzes Monatseinkommen abliefern.“ Fleischkarten, angebrochene Kaffeepakete, haufenweise Decken stapeln sich inzwischen im Hilfsbüro der Pfarrei. Die älteren Werftarbeiter, die die Werft verlassen haben, drukken indessen Flugblätter. Einige technisch besonders Begabte haben sich einen besonderen Coup ausgedacht. Mithilfe eines Sendegerätes schoben sie bereits zweimal dem Gdansker Lokalfernsehen zur besten Sendezeit eine ca. zehnminütige selbstfabrizierte Sendung unter - so konnten die erstaunten Zuschauer am Samstag und Sonntag abend - zu den Bildern einer Nachrichtensendung - eine Rede von Lech Walesa und Bogdan Borusewicz aus der Lenin–Werft empfangen.
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