: Atom-Turnier ergrauter Streiter
■ Zwei Tage lang schlugen sich im Bonner Raumschiff Aussteiger und Atomiker die Argumente um die Ohren
Atom-Turnier ergrauter Streiter
Zwei Tage lang schlugen sich im Bonner Raumschiff Aussteiger und Atomiker die Argumente um die Ohren
Aus Bonn Reinhard George
Die zweitägige Anhörung von Pro- und Contra-Sachverständigen über den SPD-Gesetzentwurf zum „mittelfristigen“ (neues Modewort!) Atomausstieg wurde zum Turnier alter im „Kernenergie-Dialog“ ergrauter Streiter - stellenweise geriet der Abtausch der z.T. seit 15 Jahren wiederholten Argumente zum Ritual - deja vu.
Und doch: Es war das erste Treffen dieser Art, zumindest in Bonn, in dem sich kein Finger und auch keine noch so zaghafte Stimme mehr für den Ausbau der Atomenergie rührte. Nur der in der Fachwelt verachtete Chef der Jülicher Kernforschungsanlage, Häfele, konnte es nicht lassen, den Abgeordneten seine alten Brütermärchen anzudienen - „neben Sonne und Kernfusion die einzige unerschöpfliche Energie...“ - keiner hörte hin.
Die am Montag veröffentlichte Studie des Öko-Instituts Darmstadt über das Katastrophenpotential der vier norddeutschen AKWs Stade, Brunsbüttel, Krümmel und Brokdorf konnte bei der Anhörung gleich von einem der Autoren, Lothar Hahn, erläutert und gegen die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) verteidigt werden. GRS-Fachmann Hicken versuchte, die Studie dadurch zu entkräften, daß er mehrfach auf technische Nachbesserungen verwies, die bei den betreffenden Reaktoren (noch) gar nicht durchgeführt oder auch nicht durchführbar sind. Darüber vergaß er völlig deren reale Nichtexistenz zu erwähnen.
Mehrfach verwies Hicken auf eine Risikostudie „Phase B“ über Druckwasserreaktoren, die aber erst im September veröffentlicht werden soll. Doch die Sicherheitsprobleme der beiden Siedewasserreaktoren Brunsbüttel und Krümmel werden auch in dieser seit langem überfälligen Studie noch nicht einmal angesprochen.
Das Hearing brachte eine Gegenüberstellung zweier Strahlenschutz-Denkschulen. Strahlenmediziner und -biologen der Universitäten Marburg und Münster, die Professoren Kuni und Köhnlein, berichteten über neue Erkenntnisse anhand der Auswertung von Daten über Hiroshima und Nagasaki: Relativ niedrige Strahlendosen können höhere Krebsschäden verursachen als bisher angenommen. Die Dosisgrenzwerte müßten entsprechend um einen Faktor 10 verringert werden. Dagegen Prof. Oberhausen, altgedienter Regierungsgutachter der Strahlenschutzkommission und seit Tschernobyl einer der bestgehaßten Verharmloser: „Wir sind gut beraten, wenn wir hier nicht versuchen, eine unnötige Vorreiterrolle zu spielen.“
Der Experte des Kernforschungszentrums Karlsruhe, Closs, entdecke den „Zwang zum Endlager“. Es mehren sich offenbar die Anzeichen wachsender Nervosität auf der Betreiberseite, die zu recht befürchtet, daß die Rechtsprechung sich demnächst des Entsorgungsnotstandes annehmen könnte. Der „Zwang zum Endlager“ bewirkt mannigfache Versuche des staatlichen Atommanagements, die ungeeigneten Endlager -Standorte Gorleben, Salzgitter oder Asse beschleunigt „gesundrechnen“ zu lassen.
Fazit der Anhörung im übrigen: Nach unwidersprochenen Aussagen, insbesondere von Prof. Hennicke (Uni Osnabrück), ist nicht nur ein „mittelfristiger“ Atomausstieg, wie die SPD ihn fordert, sondern auch eine „sofortige“ Stillegung aller Atomanlagen, wie die Grünen verlangen, technisch kein Problem. Die Stromwirtschaft nimmt die Ausstiegsperspektive mittlerweile ernst genug, um bereits Fachjuristen für Entschädigungsfragen in den Ring zu schicken. Nach Aussage des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden der Bayernwerk -AG (70 Prozent Atomstrom), Holzer, werden sich die Schadensersatzforderungen allein seines Unternehmens bei vorzeitiger Stillegung seiner Reaktoren auf einen „hohen einstelligen Milliardenbetrag“ belaufen.
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