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"Moskau braucht nicht gleichzuziehen"

■ Sowjetischer Historiker kritisiert das Streben nach Weltherrschaft / Von Erich Rathfelder

„Moskau braucht nicht gleichzuziehen“

Sowjetischer Historiker kritisiert das Streben nach

Weltherrschaft / Von Erich Rathfelder

In einem aufsehenerregenden Artikel in der 'Literaturnaja Gazeta‘ hat der Professor für Geschichte und Leiter der Abteilung für Internationale Beziehungen am Institut für die Wirtschaft des Sozialistischen Weltsystems an der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, Wjatscheslaw Daschitschew, die bisherige Außenpolitik seines Landes einer scharfen Kritik unterzogen. Für ihn enthält jegliches Streben nach Hegemonismus den „Keim des Untergangs“ und sei so für die eigene Gesellschaft sehr gefährlich, wie die Zeit der Stagnation in der Ära Breschnew zeige. Statt die Konfrontation zu suchen, sollte die Sowjetunion bei der Rüstung zurückstecken und nicht in allen Bereichen der Politik mit dem Westen konkurrieren wollen. Die Friedensbewegung in der Bundesrepublik habe auch in Moskau ihre Spuren hinterlassen und für eine Umkehr zur Vernunft beigetragen. Im folgenden Interview mit der taz greift Daschitschew auch den ehemaligen Parteichef Breschnew scharf an.

taz: Sie haben in der 'Liternaturnaja Gazeta‘ einen Aufsatz geschrieben, in dem Sie ausdrücken, der Westen habe manchmal Recht gehabt, der sowjetischen Außenpolitik zu mißtrauen.

W. Daschitschew: Ich habe die Kommentare über meinen Artikel mit Interesse gelesen. Leider sind einige Gedanken aus dem Kontext herausgenommen worden. Ich kritisiere nicht nur unsere Politik des Alleinvertretungsanspruchs, sondern zum Beispiel auch die Aufgaben des proletarischen Internationalismus. Die Rückwirkung der Aktionen in der „Dritten Welt“ auf die Entspannungspolitik und die Aufrüstung wurden nicht richtig eingeschätzt. Das hat zu den nicht erwünschten Erfolgen oder Mißerfolgen dieser Politik beigetragen. Ich versuchte, auf die Ursachen des Ost-West -Konfliktes einzugehen, um Wege zu einer Besserung der Beziehungen zu finden.

Gerade hat unsere Forschung sehr zaghaft diese Frage besprochen, obwohl in den Reden Gorbatschows und Schewardnadses sehr viel darüber gesprochen wurde. Die Forscher und die Journalisten schreiben im alten Stil und ich versuchte, das neue Denken auf diesen Bereich anzuwenden. Und das ist notwendig, um das Vertrauen zwischen Ost und West wiederherzustellen.

Ein Beispiel ist das Problem des Hegemonialismus, der unter Stalin entwickelt wurde. Er liegt im Widerspruch zu den Prinzipien der sozialistischen Politik.

Bezieht sich das auf das Verhältnis zu den Kommunistischen Parteien?

Nicht nur, sondern überhaupt auf die Außenpolitik. Und das war einer der Gründe für die schweren Fehler, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg.

Fangen wir mit Jalta an.

Na ja, das ist jetzt ein schlechtes Beispiel. Viele Leute meinen, die Konferenz von Jalta wäre der Ursprung der Teilung Europas gewesen. Damit bin ich nicht einverstanden. Jalta war eine Teilung von Einflußsphären zwischen der Sowjetunion und den Westmächten. Obwohl ich Stalin in anderen Punkten sehr kritisiere, bin ich der Meinung, daß Stalin an der Teilung Europas und Deutschlands nicht interessiert war. Ich denke, nach dem Kriege hat Stalin verstanden, daß ein einheitliches Deutschland den Interessen der Sowjetunion entspricht. In diesem Falle wäre zum Beispiel die NATO nicht entstanden und auch die Präsenz der Vereinigten Staaten wäre in Frage gestellt gewesen.

Ich meine, Jalta bedeutet durchaus nicht die Absicht der Spaltung Deutschlands. In meinem Artikel habe ich die Verletzung der Grundsätze der sozialistischen Außenpolitik kritisiert.

Lenin hat in seinen Werken 1920 bis 1922 grundsätzlich wichtige Aufsätze geschrieben über die Prinzipien der Innen und Außenpolitik. Er sagte sinngemäß, wir dürfen die fremden Völker nicht beglücken. Die Völker müßten selbst ihr System wählen. Lenin war in seinen letzten Jahren grundsätzlich gegen die gewaltsame Ausweitung des Sozialismus oder das Aufzwingen des sowjetischen Systems. Stalin hat diese Position sehr grob verletzt. 1948 wurde zum Beispiel Jugoslawien als imperialistischer Staat gebranntmarkt, als Tito sich weigerte, sich Stalin zu unterwerfen. Obwohl es natürlich auch unterschiedliche Wege zum Sozialismus geben kann, hat er das nicht anerkannt, er wollte den Sozialismus als einheitliches, überall geltendes Prinzip verstehen. Das war schließlich einer der Gründe für die Unruhen in Ungarn, in Polen und auch in der CSSR 1968. Und leider hat man unter Breschnew wieder mit derselben Politik begonnen. Das war die ganze Periode der Stagnation, die Praxis und die Theorie von Stalin wurden weiterverfolgt.

Aber auch unter Chruschtschow war doch außenpolitisch kaum eine Kursänderung zu bemerken. Denken Sie nur an Ungarn, die Kuba-krise und die Berliner Mauer 1961.

Das würde ich nicht so sagen. Es sind außenpolitisch damals viele Veränderungen eingetreten. Die ersten Ansätze zur Entspannungspolitik waren unter Chruschtschow. Die Deklarationen von Belgrad und Moskau im Jahre 1956, in denen gerade verschiedene Wege und Formen des Sozialismus anerkannt wurden, das war auch unter Chruschtschow.

Aber die Kubakrise und der Bau der Mauer?

Die Kubakrise war eigentlich eine Ausnahme. Chruschtschow war auch mit der Vergangenheit belastet. Aber neue Ansätze begannen sich zu entwickeln. Unter Breschnew und Suslow wurden diese Ansätze wieder gestoppt.

Viele Leute meinen immer noch, daß der Bau der Mauer eigentlich den Beginn der Entspannungspolitik darstellt, während andere diesen Akt als die höchste Stufe des Kalten Krieges interpretieren.

Unter den damaligen Umständen gab es vielleicht gar keine anderen Möglichkeiten. Jede Erscheinung hat zwei Seiten, eine positive und eine negative. Leider hat der Bau der Mauer auch eine klägliche Seite und hat die Verbindungen zwischen den Deutschen unterbrochen. Aber man kann auch sagen, daß sie die Vertiefung der Krise, die damals vielleicht einen ernsten Charakter angenommen hatte, verhindert hat. Es hätte zu einem großen internationalen Konflikt kommen können.

Die innere Entwicklung war verbunden mit der gesamteuropäischen Stabilität. Chruschtschow mußte das in Kauf nehmen. Aber wenn wir eine wirklich stabile Lage in Europa haben, in der seitens des Westens oder seitens des Ostens keine Einmischungen in die inneren Angelegenheiten zu befürchten sind, dann ist es eine andere Situation.

Sie meinen, daß heute unter Gorbatschow ein Ende des Prager Frühlings wie damals nicht mehr möglich wäre.

Das meine ich. Obwohl auch seitens des Westens nichts unternommen werden darf, um diese Stabilität auf irgendwelche Weise zu bedrohen.

In den siebziger Jahren, so wird ihre These kolpotiert, hatte der Westen gut daran getan, der sowjetischen Politik zu mißtrauen.

Das war eine falsche und inkompetente Politik von Breschnew und Suslow damals. Durch die Ausweitung der Gegensätze in der „Dritten Welt“ wurde dieses unnötige Wettrüsten in den siebziger Jahren provoziert. Das gilt auch für die SS-20 -Raketen. Ich habe noch Anfang der achtziger Jahre in einer meiner Studien, die ich unserer Führung vorgelegt habe, empfohlen, zu einem echten Entspannungskurs überzugehen. Es genügt, ausreichende Kräfte zu haben, um dem Krieg vorzubeugen und die Verteidigung sicherzustellen.

Es ist nicht unbedingt nötig, mit den Vereinigten Staaten und den westeuropäischen Ländern gleichzuziehen. China hat viel weniger Waffen und fühlt sich in Sicherheit. Das war einer der wesentlichen Fehler von Breschnew. Vielleicht hatte er eine übertriebene Vorstellung von der Bedrohung aus dem Westen. Das ist aber auch keine richtige Einschätzung der globalen und strategischen Lage. Diese zwei Umstände, das Streben nach der Ausweitung des Sozialismus in der „Dritten Welt“ bei Ländern, die für den Sozialismus nicht reif sind, und das Streben, gleichzuziehen im Bereich der Rüstung, hat schwere Folgen gehabt für die Entspannung.

Die Friedensbewegung hat in der Bundesrepublik die Beseitigung der westlichen Aufrüstung mit Demonstrationen und Mobilisierungen auf den unterschiedlichsten Ebenen erreicht. Welche Wirkung hat die westdeutsche Friedensbewegung in der Sowjetunion gehabt? Gab es überhaupt eine?

Ich meine, daß die Friedensbewegung in der Bundesrepublik große Ausmaße angenommen hat und damit nicht nur auf die Politik des Westens, sondern auch auf die Politik der Sowjetunion eingewirkt hat. Das war sehr positiv. Dieser Faktor hat auch das Wettrüsten gebremst und zur Ernüchterung und zur Vernunft beigetragen.

Wir haben hier in der Bundesrepublik die einseitige Abrüstung im Westen gefordert und nicht auch die Abrüstung im Osten mit in den Vordergrund gestellt. Vielleicht ist das politisch gar nicht so sinnvoll gewesen?

Es ist nur zu begrüßen, wenn eine Seite abrüstet. Und dieser Vertrag über die Beseitigung der Mittelstreckenraketen sieht vor, daß die Sowjetunion 1.600 Raketen und die USA 800 verschrotten. Darunter leidet die Sicherheit der Sowjetunion nicht.

Wie weit wird die Sowjetunion gehen in der Abrüstung?

Je weiter, desto besser, ist jetzt unsere Ansicht und unser Ziel. Auf dem niedrigsten Niveau sollten wir noch verteidigungsfähig sein. Wir sind bereit, geographische Asymetrien mit zu berücksichtigen. In unserem Interesse liegt, so viel wie möglich zu reduzieren. Für uns ist das eine unerträgliche Bürde, diese Militärproduktion, sie soll in den zivilen Bereich überführt werden.

Trotzdem scheint da etwas ins Stocken geraten zu sein, z.B. mit dem START-Vertrag. Es gingen Gerüchte, Gorbatschow wolle einen Truppenrückzug aus der DDR und der CSSR während des Gipfels ankündigen....

Es steht nichts im Wege bei der Reduzierung der Truppen und sogar bei dem Abzug der Truppen aus der Tschechoslowakei und aus Ungarn.

Wissen Sie, man muß die Stabilität in Europa nicht bedrohen. Der Abzug muß sich auf gegenseitig ausgewogener Grundlage vollziehen. Natürlich kann es Ausnahmen geben. Ich hoffe, daß das bevorstehende Treffen des Warschauer Paktes Mitte Juli zu neuen Vorschlägen in bezug auf die konventionelle Abrüstung führt.

Was sagen denn die sowjetischen Militärs zu dieser Abrüstungspolitik?

Die Militärs sagen das, was ihnen die Politiker vorschreiben.

Das Primat der Politik ist also in der Sowjetunion gewahrt.

Die Rolle der Militärs in der UdSSR wird im Westen oft übertrieben dargestellt. Natürlich haben die Militärs die Aufgabe, die Stabilität zu sichern. Wir müssen die militärpolitischen Grundlagen für die neue Etappe der Entspannungspolitik in Europa schaffen. Meiner Ansicht nach ist es das Wichtigste, die Angst in Europa vor einem Überfall wegzunehmen. Deshalb begrüße ich die Initiative der bundesdeutschen Sozialdemokraten über strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Das ist ein sehr guter Gedanke. Das ist die zukünftige Entwicklung des Gleichgewichts auf dem niedrigsten Niveau im militärischen Bereich. In Anbetracht der demographischen Schwierigkeiten in der BRD und in den USA, zum Beispiel den großen Staatsschulden dort, müssen die ein Interesse haben, den Abrüstungsprozeß fortzusetzen.

Aber was ist mit dem militärisch-industriellen Komplex?

Die Interessen der Sicherheit diktieren doch eine andere Handlungsweise. Und die Friedensbewegung muß auch ihren Einfluß zur Geltung bringen.

Die Diskussion über strukturelle Nichtangriffsfähigkeit, an der ja auch ihr Rüstungsexperte Herr Proyektor mitgewirkt hat in dem Buch mit den Politikern Voigt und Rühe, ist sicher ein wichtiger Anstoß.

Aber es gibt noch die andere Variante, nämlich die der Friedensbewegung von unten. Wir würden uns sehr wünschen, wenn auch die Friedensbewegungen von unten in den Sozialistischen Ländern tätig werden könnten. Ich denke nur an die Vertrauensgruppe in Moskau, die DDR-Friedensbewegung, die pazifistischen Gruppen in Polen und in Ungarn, die ja auch beitragen zu diesem Diskussionsprozeß, die aber immer wieder daran gehindert werden, sich zu äußern.

Ich sehe nur positive Seiten in der Tätigkeit dieser informellen Vereine, wie wir sagen. Bei uns gibt es schon viele solcher Vereine. Ich sehe, das ist der Ausdruck der Besorgnis breiter Massen gegenüber der Kriegsgefahr und den sozialen Problemen, die mit der Rüstung verbunden sind. Ich halte ihren Beitrag für sehr positiv.

Woran liegt es dann, daß solche Gruppen immer noch verfolgt und teilweise sogar ins Gefängnis gesteckt werden? Zum Beispiel in der DDR.

Ich habe von Zeit zu Zeit darüber gelesen. Aus welchen Gründen das geschieht, weiß ich nicht. Ich bin schon lange nicht mehr in der DDR gewesen. Vielleicht ändert sich auch dort die Lage im Verhältnis zu diesen Gruppen.

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