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Paradiesvogel mit Geschichte

■ Heute wird Berlins schillerndster Rechtsanwalt, Dietrich Scheid, zu Grabe getragen / Er kannte jeden, er verteidigte alle - ob ganz oben oder tief unten

Paradiesvogel mit Geschichte

Heute wird Berlins schillerndster Rechtsanwalt, Dietrich

Scheid, zu Grabe getragen /

Er kannte jeden, er verteidigte alle - ob ganz oben oder

tief unten

Sein Abschied konnte nicht würdiger sein. Auf Harry Ristocks Gartenfest Ende Mai zog der 72jährige Scheid vor der versammelten Berliner Prominenz seine Runde, nicht ahnend, daß es seine letzte sein sollte. „Meine Frau hat mich in diesem Jahr ohne Regenmantel gehen lassen“, erzählte er noch. Am Schreibtisch erwischte es ihn dann, einen Tag nach dem Fest.

Hinter einem Stapel Akten hervorragend, pflegte er, als die Eheleute Scheid noch eine Villa im Grunewald bewohnten, zu empfangen. In dem holzgetäfelten Büro roch es nach vergilbtem Papier, Kellerfeuchtigkeit und seinen geliebten Tieren, Hund und Ozelot. „Ich verteidige keine Tierquäler und keine Leute, die Kinder mißhandeln“, lautete die Maxime des weißhaarigen Grand-Signeurs der Berliner Advokaten. Die Liste seiner Mandanten war so lang wie illuster. Die da oben ließen sich von ihm genauso gern vertreten wie die da unten, aber es war vor allem die Halb- und Unterwelt, die ihn faszinierte. Er konnte über den moralischen Verfall der Bourgeoisie wettern und im gleichen Atemzug die tadellosen Charakterzüge von Klein- und Großkriminellen feiern. „Die sind wenigstens ehrlich, unsere Politiker hingegen baden in Doppelmoral“, urteilte Scheid über seine „Freunde aus dem Rotary-Club“. Bei der Auswahl seiner Mandanten war er gleichwohl ohne Skrupel. Dazu gehörten Drafi Deutscher, der sich vor kleinen Jungs entblößt gezeigt haben soll, Wolfgang Neuss und der ehemalige AL-Bundestagsabgeordnete und Anwalt Christian Stöbele, mit dem er eine Zeitlang im gleichen SPD -Ortsverein war, Anwälte, die sich wegen des Buback-Nachrufs zu verantworten hatten, der Fluchthelfer-König Albert Schütz, der einstige Bandenchef Klaus Speer, Tierschützer Andreas Wolf, Bordell-Wirt Manne Brumme und zuletzt vertrat er (mit seinem Sozius Hubert Dreyling) den Auspacker aus Bayern, Bauspekulant Bernd Bertram, und bereitete nicht nur so Heinrich Lummer schlaflose Nächte. Das Spektrum reichte von der SED-Zeitung 'Die Wahrheit‘, für die er Justiziar war über zahllose Nachtklubbetreiber bis zum furchtbaren Richter am Volksgerichtshof, Hans Joachim Rehse, für den Scheid 1968 einen skandalösen Freispruch erfocht. Scheid brillierte nicht so sehr durch seine Plädoyers, er kannte vielmehr jeden Staatsanwalt, jeden Richter in- und auswendig. Denn bis 1958 vertrat er als Staatsanwalt am Landgericht sozusagen die andere Seite, war bestens mit ihren Tricks, Marotten und Seilschaften vertraut. Scheid, ein geborener Berliner, Sohn eines Bankdirektors, kannte die Stadt bis in ihre intimsten Winkel. Über kriminelle Fluchthilfe wußte keiner so gut Be-Scheid wie er. Aber er hatte auch eine schwere Last zu tragen. Wenn er in seinem Leben versuchte, mit jedermann auf gutem Fuß zu stehen, so lag dies auch an seinen nationalsozialistischen Verstrickungen. Als Freiwilliger hatte er sich 1940 zur 5. SS-Totenkopfstandarte gemeldet und war bis Ende 1944 für die besetzten Ostgebiete (Minsk) abgeordnet. Eine Amnestie 1952 ersparte ihm 12 Jahre Zuchthaus.Benedikt Maria Mülder

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