: Masse und Ohnmacht
■ Stellvertreterparty in Wembley: Die Pop-Welt begeistert die Massen - Mandela sitzt einsam in der Zelle
Masse und Ohnmacht
Stellvertreterparty in Wembley: Die Pop-Welt begeistert die Massen - Mandela sitzt einsam in der Zelle
120.000 Gäste, knapp eine Milliarde Zaungäste an den Fernsehschirmen. Es war die größte Geburtstagsparty der Welt, und doch immer noch nicht groß genug - denn einer fehlte: Nelson Mandela, dem zu Ehren am Samstag ein Mammut -Popkonzert veranstaltet wurde. Die Symbolfigur der Anti -Apartheidbewegung wird am 18. Juli 70 Jahre alt.
„Bitte anschnallen“, scherzt der Zugführer der Untergrund -Bahn. „In wenigen Minuten landen wir in Wembley. Eine fröhliche Geburtstagsparty wünsche ich euch; und viele Grüße an Nelson Mandela.“ Sobald die Menge den silbernen U-Bahn -Zügen entströmt, wechseln Tickets für 180 DM rasch aus gewieften in gierige Hände. „Presse? Kannst Du uns nicht mit reinschleusen?“ Jeff und Brian sehen mit ihren Plastiktüten voll Sechser-Packs aus, als hätten sie den Zug zur Fußball EM nach Düsseldorf verpaßt. „Wir geben Dir auch 'ne Story. Welche Story suchst Du hier überhaupt?“ Gute Frage.
Ortszeit 12.00 Uhr mittags. Der Himmel ist hellgrau, die Stimmung schon glänzend, als die globale Jukebox von Wembley ihre ersten Sounds anstimmt. Sting singt über den Stachel der Apartheid. „Message in the bottle“. SOS für Nelson Mandela; ehe er zu einem Konzert am Abend in Berlin weiterfliegt. Dabeisein ist alles. 12.50 Uhr: George Michael, der stoppelbärtige Pop-Dukakis krächzt Marvin Gayes „Sexual Healing“ durch 500 Lautsprecherausgänge; und hastet zu seinem regulären Londoner Konzert weiter. „George Michael setzt für Mandela seine Stimme aufs Spiel“, schreibt die 'Daily Mail‘ über soviel Solidarität besorgt. 13.10 Uhr: Regisseur Richard Attenborough schreit in seiner Solidaritätsansprache nach Freiheit. Bei den Dreharbeiten zu seinem Kino-Epos habe er genug über „das Übel der Apartheid“ erfahren, durch das unter anderem die Talente schwarzer Künstler vergeudet würden.
Nur Minuten später attackiert ein rechtsextremer Abgeordnete der britischen Konservativen in den Radionachrichten die Ausstrahlung solcher Statements durch die BBC als „unverantwortlich“. Danach tritt auf der Nebenbühne eine Gruppe aus südafrikanischen Musikern und Tänzern auf; nicht jedoch auf dem Bildschirm, wo sich George Michael über die Probleme eines erfolgreichen Rockstars äußert.
13.30 Uhr: Während Annie Lennox von den Eurythmics weißblond über die Bühne hüpft, stehen ANC-Präsident Oliver Tambo und Mandelas Anwalt Ismail Ayob im Pressezentrum Rede und Antwort. Ob er kein Blut an seinen Händen spüre, fragt einer der mikrophonhaltenden Geier Oliver Tambo. Ob die Einnahmen aus dem Konzert nicht doch am Ende beim ANC für seine „Terroraktionen“ landen. Bischof Trevor Huddleston, früher Priester in Mandelas Gemeinde und heute als anglikanischer Erzbischof in Großbritannien als Präsident der britischen Anti-Apartheid-Bewegung (AAM) aktiv, weist diese Unterstellung als unverschämt zurück. Und das in Wembley verteilte gewaltverherrlichende Pamphlet „Mandela spricht“? Eine Fälschung, wahrscheinlich im Auftrag Pretorias, sagt ein Sprecher der AAM und zerreißt es vor den Kameraaugen.
15.30 Uhr: Nach einem Glas von UB 40s „Red Red Wine“ swingt auch die Reportertribüne im Reggae-Rhythmus mit. „I've got you, babe“ singen sie im Chor mit Chryssie Hind von den Pretenders, wohl unbeabsichtigt das Verhältnis zwischen P.W. Botha und dem Geburtstagskind beschreibend. 18.00 Uhr: Helle Aufregung hinter der 60 Meter breiten Bühne mit den beiden Riesenbildschirmen. Dem als Überraschungs-Gast mit Concorde eingeflogenen Stevie Wonder ist die Disc-Drive seiner Elektronikausrüstung geklaut worden.
Statt dessen werden Hugh Masakela und Miriam Makeba vorgezogen; und beweisen, daß für differenziertere Töne hier im Wembley Stadion kein Platz ist. Alles, was über einen soliden Rums-Rhythmus mit 08-15-Melodie hinausgeht, bleibt in den 1.600 Metern Kabeln hängen. Die musikalische wie politische Botschaft muß banal bleiben, sonst kommt sie in diesem Spektakel nicht mehr an, nicht im Stadion und schon gar nicht auf dem Bildschirm. Die Kids inmitten des riesigen Wembley-Ovals sinken so vorübergehend zusammen und ruhen sich für die kommenden Höhepunkte aus.
19.00 Uhr: Die Simple Minds, der Name ist Programm. Ihr Bombast-Rock bewegt auch die einfältigsten Gemüter. „Are you ready?“ „Yeaah!“ „Let's go!“ Und sie folgen nahezu willenlos.
Tracey, 15, heute aus Manchester nach London gekommen, schwingt sich auf Terrys Schultern. „Hey, gib mir die Cider -Flasche“, befiehlt sie ihrem Lover verzückt-entrückt. Die Ordner am Bühnenrand schütten Wasserflaschen in die Menge, um die aneinandergepreßten Leiber zu kühlen. Leadsänger Jim Kerr singt „Mandela Day“, was den meisten längst egal ist.
Die kids taumeln wie von Sinnen in einer Traube der Begeisterung. Peter Gabriel stößt hinzu, seine Hymne gegen das Apartheidregime verdichtet sich im Dunst der Cider- und Haschdüfte zur kollektiven Ode an Steve „Biko, Bikooo“. Fäuste recken sich gen Himmel.
Terry spürt Tracey längst nicht mehr, sondern wiegt sich traumenthoben im langsamen Rhythmus der Menschenmenge. Erst als Springsteen-Verschnitt Little Steven dazwischenrockt, läßt er Tracey herunter , mobilisieren nun beide die Meute die letzten Energien zum jubelnden Auf-der-Stelle-Hüpfen.
20.15 Uhr. Nelsons Party ist voll im Schwung, und je später der Abend, desto schöner die Gäste. Whitney Houston, makellos in Sound & Vision, betritt die Bühne. „Was würde ich darum geben“, schreibt Mandelas Mitgefangener Ahmed Kathrada aus dem Gefängnis von Pollsmoor, „um Whitney Houston zu sehen!“ Wenn ihre Stimme im Radio zu hören sei, dann verhalte sich sein Knastkollege Walter Sizulu (76) „wie die Jugendlichen, die in ihre Konzerte strömen“. Whitney singt eine Ballade für die im Rivonia-Verfahren vor genau 24 Jahren zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilten ANC -Führer. Die globale Party geht weiter. Der Houston-Hit „Dancing with Somebody“ läßt schließlich auch die Ehrentribüne toben. Wo sonst die Mitglieder der königlichen Familien Ehrenpokale an verschwitzte Fußballer verteilen, tanzt nun Labour-Führer Neil Kinnock mit seiner Frau im Stil eines besinnungslosen Holzfällers; während Harry Belafonte neben ihm etwas mehr Stil zeigt. Und dann bringt - mit wiedergefundener Floppy Disc - Stevie Wonder den 72.000 das Erlebnis kollektiver Ekstase und totaler Verbrüderung. „Happy Birthday, Nelson Mandela“, der vielstimmigste Geburtstagsgruß aller Zeiten vor den Fernsehaugen einer Menschenmilliarde. Eine Euphorie, die im vom Scheinwerferlicht gefleckten Stadionrund von den gezwirbelten Gitarrenklängen der Dire Straits aufrechterhalten wird.
Wenn am Ende 72.000 Brüder und Schwestern „Brothers in Arms“ mitsingen, kann dies vieles heißen. Oder auch gar nichts. Doch für einen Augenblick scheint hier Masse auch Macht zu sein. Ehe sie sich in den Stadionausgängen und U -Bahnschächten verläuft; ehe die Teilnehmer an Nelson Mandelas Geburtstagsparty auf dem Heimweg beim Umsteigen im Stadtzentrum auf die Massen treffen, die zwischen Trafalgar Square und Buckingham Palace der offiziellen Geburtstagsparade für die Queen beigewohnt haben. Wer Elisabeth II. ist, weiß hier im spätabendlichen Gewimmel deutscher Pauschaltouristen, amerikanischer Musical -Liebhaber und einheimischer Monarchisten und Nachtschwärmer jeder. Aber wer ist schon jener Nelson Mandela, dessen Freilassung da immer gefordert wird? Rolf Paasch
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