: Italiens Advokatenboom
■ Im Lande der Improvisation genießen Rechtsgelehrte höchstes Prestige
Italiens Advokatenboom
Im Lande der Improvisation genießen Rechtsgelehrte höchstes Prestige
Aus Rom Werner Raith
„Klarer Fall“, sagt Alberto, „ganz eindeutig: Hier braucht man einen Rechtsanwalt.“ Die Runde aus acht mehr oder minder harmlosen Häuslebesitzern in der Neubauzone bei Rom schweigt betreten. „Aber wir wollten doch nur zusehen, wie wir ein paar kleine Arbeiten an unseren Grundstücken gemeinsam angehen können...“, wendet Emmi ein. Nichts da: „Das hat alles keinen Sinn. Wir müssen beim Notar eine Eigentümergemeinschaft eintragen, einen Verwalter ernennen und strittige Sachen dem Rechtsanwalt übergeben.“ - „Aber wir haben doch gar keine strittigen Sachen...“ - „Die werden sich finden“, erklärt Alberto, und er meint es auch so: „Z.B. wenn uns die Gemeinde Teile unserer Grundstücke enteignen will.“ „Davon spricht aber doch keiner...“. Alberto ist entsetzt ob solcher Naivität: „Das kann aber noch werden. Denen ist alles zuzutrauen.“
Italien, das Land der Advokaten: In keinem anderen Land der Welt gibt es pro Kopf so viele von ihnen, nahezu jede Familie weist, neben drei Arbeitslosen, mindestens einen Rechtsanwalt auf, und der ist kaum einmal ohne Aufträge. Wie in Bayern einst der zweitgeborene Bauernsohn, weil der Hof unteilbar war, zum Priesterstudium geschickt und so in die Aufsteigerlaufbahn befördert wurde, gilt in Italien die Tätigkeit des Rechtsgelehrten als der krisenfeste Beruf schlechthin, und da legt dann die ganze Familie zusammen, um einem der ihren eine solche Ausbildung zu ermöglichen. Das soziale Prestige steigt damit in ungeahnte Höhen. Denn die Italiener, sonst so kommunikationsfreudig und in allen Fragen auf eher unorthodoxe Lösungen aus, haben neben Fußball noch diese andere Passion - die Aufplusterung der eigenen Position durch die Bekanntgabe, daß man über einen Advokaten verfüge. „Qui ci vuole l'avvocato“, hier braucht man einen Rechtsanwalt, gehört in jeder Diskussion zum unentbehrlichen Requisit der Argumentation: Nicht umsonst sind im alten Rom Rechtskultur und Rhetorik zu gleicher Zeit entstanden und in enger Verquickung miteinander entwickelt worden: Ciceros Schriften sind der eindrucksvollste Beleg dafür.
Das Ansehen der Jurisprudenzen ist seither ungebrochen nirgendwo sonst könnte sich der ungekrönte Herrscher des Landes, FIAT-Chef Giovanni Agnelli, mit dem schlichten Titel „L'avvocato“ begnügen und doch die Fülle seiner Macht und seines Könnens mit diesem Understatement ausdrücken. Und wenn in nordischen Gefilden der Ehrgeiz eines jeden Schauspielers darin liegt, irgendwann in seiner Karriere Könige und andere gekrönte Häupter, tief mißverstandene tragische Wissenschaftler und schaurige Dämonen zu spielen, so hat der italienische Mime nur die eine Ambition irgendwann einmal einen Advokaten darzustellen. All die Großen des Theaters, von Eduardo De Filippo über Toto bis zu Vittorio de Sica brillierten in dieser Rolle. Wer in italienische Gerichtsverhandlungen geht, bemerkt bald, daß die Vorbilder ihren filmischen und szenarischen Abbildern an Theatralik in nichts nachstehen - schon der Italienreisende Goethe widmete solchen Auftritten der Avvocati ganze Kapitel seines Tagebuchs. Ob sich der Chefankläger Marini im Prozeß gegen den Papstattentäter dramatisch die goldbortenverzierte Toga vom Leibe reißt, weil Ali Agca einen Zeugen als Idioten bezeichnet oder ob sich die Verteidiger im Maxiprozeß gegen die Mafia von Palermo in halbstündigem Geschrei gegen die Kollegen von der Nebenklage erheben - alles gehört ins mächtige Bild des mit Leib und Seele Recht und Gesetz verteidigenden Heroen des Forums.
Dabei ist die Arbeit vor Gericht im Grunde nur eine winzige Nebentätigkeit des Avvocato. Nur selten lassen es die Rechtsausleger wirklich zum Prozeß kommen - viel wichtiger ist das Einschüchterungsgehabe, die Wortflut in Schrift und Rede - und die zwischen Advokat und Advokat schließlich beim Espresso innerhalb weniger Minuten ausgehandelte Einigung. Daß sie gar nicht so gerne vor Gericht ziehen, hängt mit einer weiteren Eigenart Italiens zusammen: Ganz im Kontrast zu der wort- und gestenreichen Ausdruckfülle der Anwälte nämlich haben diese, verglichen mit anderen europäischen Kollegen, vor den Schranken des Gerichts nämlich fast keinerlei Rechte. Kaum je kommt ein Befangenheitsantrag durch, einsitzende Häftlinge herauszupauken ist vor einem definitiven Urteil fast unmöglich, (so daß die meisten Verteidiger auf reine Verschleppung setzen, damit die Höchstzeiten der U-Haft überschritten werden und ihr Mandant so automatisch freikommt); der Vorsitzende kann ihnen nahezu jederzeit das Wort entziehen, und dies gilt nicht einmal als Revisionsgrund; und sogar wenn sie nachweisen, daß das halbe Gericht nicht rechtmäßig zusammengesetzt ist, heißt das noch lange nicht, daß der Prozeß platzt oder revidiert wird. Als sich 1987 herausstellte, daß mehrere hundert Gerichtspräsidenten nicht korrekt ernannt worden waren, stellte der Justizminister fest, daß das im Lande doch gang und gäbe sei und daß die Advokaten nicht gar so kleinlich sein sollten. Die Anträge zur Verfahrensaussetzung wurden abgeschmettert, lediglich ein einziger Prozeß muß wiederholt werden.
Die abgeblitzten Juristen nahmen's nicht weiter krumm: schließlich haben sie ja auch so genug zu tun. Alberto allerdings muß weiterhin ohne Advokaten auskommen - die auswärtigen Häuslebesitzer haben seinem „ci vuolo l'avvocato“ doch nicht nachgegeben. Alberto ist entsetzt so naiv können nur Fremdlinge sein, „die überhaupt nicht wissen, worauf es ankommt“. Sie werden's schon noch lernen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen