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Frankreichs Uhren - auf Normalzeit gestellt?

„Frankreichs Uhren gehen anders“, hieß eine lang gepflegte Überzeugung politischer Kommentatoren / Damit scheint es vorbei zu sein: Eine „sozial-liberale“ Koalition nach BRD-Vorbild wird als Ausdruck des Wählerwillens interpretiert / Kümmerliche Spätgeburt oder neuer Hoffnungsschimmer für „europäische Linke“?  ■  Von Claus Leggewie

„Kampf um die Mitte“, „Konsens„-Beschwörung, allseitiger Ruf nach der „Öffnung“ - auch in Frankreich signalisieren solche Vokabeln die Schwierigkeiten, einer in Bewegung geratenen, „unübersichtlich“ gewordenen Gesellschaft die politische Form zu verpassen.

Das an sich recht flexible politische System der Fünften Republik kracht in allen Fugen. Dreimal sind die Bürger enttäuscht worden: Unter Giscard d'Estaing blieben die Prophezeiungen des „kulturellen Liberalismus“ unerfüllt, dann kam die verkorkste Linksunion und zuletzt der law-and -order-Liberalismus der kurzen Ära Chirac. „Der“ Wähler, diese unsichtbare Hand, reguliert den politischen Markt mehr und mehr als „Rächer“: Statt Kandidaten und Regierungsprogramme vorab mit Kredit auszustatten, sanktioniert er, „Blick zurück im Zorn“, jedesmal neu das Scheitern des wirtschafts- und sozialpolitischen Krisenmanagements (erst Staats-, dann „Volkskapitalismus“) und die Unfähigkeit der „politischen Klasse“, die Wünsche der zivilen Gesellschaft zu deuten. Schlechte Zeiten für absolute Mehrheiten: Erst bekam der „PS-Staat“ Mitterrands, dann der „RPR-Staat“ Chiracs eine klare Absage. So geriet die „Mitte-Links-Regierung“ auf die Tagesordung der Fünften Republik.

Mitterand II. bekam (fast), was er seinem Volk abverlangt hatte: eine sozialdemokratische Partei, die mit 40 Prozent der Stimmen beinahe „skandinavische“ Größe hat - doch nicht groß genug zum absoluten Regiment. Doch eine sozialliberale Ersatzkoalition ist bekanntlich nicht im politischen Angebot, weil und solange es keine französische F.D.P. gibt. 'Le Monde'-Chefredakteur Daniel Vernet, langjähriger Bonner Korrespondent des Blattes, empfahl seinen Landsleuten schon wärmstens das „Modell Deutschland“ mit seiner Scharnierpartei zwischen den Lagern als „zivilisiertere Weise, die Demokratie zu praktizieren“.

Frankreichs

unsichtbare Mitte

Das alte Frankreich der Dritten Republik war soziologisch wie politisch von der Mitte aus, d.h. von den Honoratioren des alten Mittelstandes, regiert worden. Doch nach 1945 standen Weltmarktöffnung, Entkolonialisierung und staatsgelenkte kapitalistische Modernisierung an; die Zentristen zerrieben sich zwischen dem feindlichen Blockgespann von Gaullisten und Kommunisten, die in ihren Programmen Modernisierung und nationale Unabhängigkeit gemein hatten: dem „Gaullo-Kommunismus“. Das trotzige Aufbäumen der alten Sozialdemokratie (SFIO) als „dritte Kraft“ blieb ebenso fruchtlos wie der linkstechnokratische Republikanismus des Radikalen Pierre Mendes-France; genausowenig konnte es eine eigenständige liberale Partei geben oder eine christdemokratische „Volkspartei“. In den zentalen Streitfragen Frankreichs Kirche (ausgefochten um die Konfessionsschule) und Geld (abgewickelt in betrieblichen Klassenkämpfen und Revolten der „kleinen Leute“ gegen „die Dicken“) besaß die Mitte kaum ideologisches Gewicht. Ihr Hauptteil ging (und wurde) zur klassischen Rechten. Jede Wahl seit den sechziger Jahren hatte diesen politischen Dualismus.

Doch je weniger „die Mitte“ eine selbstständige politische Einheit war, desto stärker wurden die Juniorpartner der Blockhegemonie. Die regenerierten Sozialisten wuchsen auf Kosten der Kommunistischen Partei (PCF), die mit ihrer Entstalinisierung nicht klar kam; die Anhängerschaft Giscards mästete sich an der Substanz des verwaisten Gaullismus. So wurde Frankreich faktisch in der Mitte regiert. soziologisch unterfüttert war dieser Prozeß vom Aufstieg der „Nicht-Klasse“ der „neuen Mittelschichten“, vor allem der Angestellten der Dienstleistungsbranche und des staatlichen Sektors. Diese ausufernde „Rest-Kategorie“ der Sozialstatistik beförderte „Opas Frankreich“ im Zeitraffer von einem malthusianischen, selbstgenügsamen Agrarland zur postindustriellen Service-Gesellschaft der „54 Millionen Individuen“ (G. Lipovetsky) mit ihrem garantiert „ideologiefreien“ Weltbild. Vor allem die Sozialistische Partei - spektakulärste Neugründung in der Parteiengeschichte nach dem Krieg - sammelte die (in sich überaus heterogenen) „Zwischenschichten“, seit die „fetten Jahre“ mit den hohen Wachstumsraten vorbei sind und „Postfordismus“, ökologische Dauerkrise und „Wertewandel“ anstehen.

Während der PS der Spagat zwischen der Linksunion mit Marchais und zentristischen, darunter vielen katholischen Deserteuren von der Rechten zur halbwegs eleganten Figur geriet, endete die Turnübung rechts im schmerzhaften Krampf. Chiracs persönliche Niederlage 1988 war die Konsequenz des Scheiterns einer großen „Volkspartei“ der rechten Mitte. Denn während die verspätete Sozialdemokratie auch ohne „Bad Godesberg“ in schwieriger Zeit fast zur „Allerweltspartei“ heranwuchs, ist die neogaullistische Sammlung unterdessen in drei fast gleich große Wählergruppen zerfallen und Chiracs RPR zu einer ganz ordinären rechtskonservativen Partei krankgeschrumpft.

Eine französische F.D.P.?

Wird der „ewige Sumpf“ (Maurice Duverger über die Mitte) 1988 also trockengelegt? Die bloß relative „präsidentielle Mehrheit“, die Minderheitsregierung Rocard und die Abgrenzungszwänge, die der „Faktor Le Pen“ im rechten Lager produziert, könnte eine Teilemanzipation des „Zentrums“ beschleunigen; die bisher in Giscards Parteienkonföderation UDF inkorporierten Abgeordneten des Zentrums (CDS) sind jetzt als Fraktion ein Stück ausgeschert. Ihr Tutor, Ex -Premier Raymond Barre, macht Anstalten, die angekündigte „konstruktive Opposition“ eher konstruktiv als oppositionell zu betreiben, nachdem ihn die Spaltung und Radikalisierung der Rechten zuletzt um den durchaus möglichen Einzug in den Elysee-Palast gebracht haben. Absprungbereite Dissidenten aus den rechten Parteien gibt es zuhauf, und sogar von einer französischen FDP mit christlich-sozialem Einschlag wird interview-öffentlich fabuliert, die demnächst rechte und linke Mitte sich abwechseln lassen könne.

Doch reicht diese eher konjunkturell bedingte Linkswendung (die Satirezeitschrift 'Le Canard Enchaine‘ übersetzte CDS schon mit „comment devenir socialiste?“ - wie man als Zentrist sozialistisch wird) nicht aus für eine Partei der Mitte zwischen dem an den Rand seiner Integrationsfähigkeit gestoßenen PS und dem Rechts-Provisorium URC, dem jüngsten Wahlbündnis zwischen UDF und RPR. Denn eben diesem Rechtsblock sowie der zuverlässigen Stimmübertragung rechtsextremer Wähler verdankt ja das CDS seine jetzige Gesundheit. Vorläufg bleibt „die Mitte“ (noch) die Rechte. Zu recht auch haben die Zentristen Angst, nicht Ankerplatz, sondern bloß Transitraum permanenter, nichtseßhaft zu machender Wechselwählerströme zu sein. Denn sie verfügen weder soziologisch noch ersatzweise symbolisch über jenes Stammwählermilieu, das neue Kernbildungen im Parteiensystem und neue Parteiidentifikationen benötigen. Nur wenn das soziologische Profil der „neuen Mittelschichten“ und die politische Fiktion eines „Centre“ stärker zur Deckung kämen, und wenn zweitens das fränzösische Wahlrecht mindestens eine „Dosis“ Verhältnismäßigkeit einnähme, könnte die Neuaufteilung des Parteiensystems als selbsterfüllende Prophezeiung gelingen.

Noch eine Chance

für die Linke?

Die Sozialisten stecken, wegen ihrer bloß relativen Mehrheit, gewiß in der Zwickmühle. Aber im europäischen Vergleich sind sie eher in einer komfortablen Lage: Weder eine rechte „Volkspartei der Mitte“ noch grünes „Fleisch vom Fleische“ rauben ihr die „strukturelle Mehrheit“. Eine rechnerisch mögliche Linksunion schützt sie vor rechten Mißtrauensvoten und Regierungssturz und ermöglicht ihnen überdies, sozial- und steuerpolitische Reformen durchzubringen, während sich mit einer anderen Mehrheit rechts jene „sozialen, liberalen und europäischen“ Projekte vorantreiben lassen, von denen Rocard und Barre fast wort und deckungsgleich sprechen. Die nostalgische Versuchung einer neuaufgelegten „Union de la gauche“, deren linkskeynesianische Komponente (Ankurbelung des Binnenmarktes durch Kaufkraftstärkung) die dezimierte, aber sich langsam fangende PCF aus dem Keller geholt hat, drängt sich manchen auf und schließt sich doch sogleich aus. Die Lektion von 1981/82, des gescheiterten Ankurbelungsprogramms in einer ökonomisch und politisch widrigen internationen Umwelt, haben die Sozialisten gelernt. Nur noch die Wiedereinführiung der Vermögenssteuer für die Superreichen ist vom einstigen Umverteilungsehrgeiz geblieben. Aus dieser Quelle soll ein mageres sozialpolitisches Vorhaben mit Grundeinkommen und „Wiedereingliederung“ in vor allem lokalen Beschäftigungsinitiativen finanziert werden - wobei innerparteilich schon heftig umstritten ist, wie sie zum Sprudeln gebracht werden soll.

Gegen eine Linksunion Nr.2 spricht aber auch, daß die Sozialisten ihre kulturellen Differenzen zur alten Arbeiterbewegung sehr viel selbstbewußter herauskehren und gleichwohl das historische Monopol der PCF in der Arbeiterklasse gebrochen haben. Die Kommunisten, bei der gegenwärtigen Zusammensetzung von Politbüro und Parlamentsfraktion, sind im übrigen noch weniger „reformerisch“ gesonnen als 1981 oder 1984 - Perestroika an der Seine ist weiterhin Fehlanzeige.

Was also ist noch „links“ an der „linken Mitte“? Mitterrand und Rocard, auch der neu gekürte PS-Chef Mauroy, berufen sich auf die „Welt der Arbeit“ mit ihren authentischen Werten von Solidarität, Gleichheit und Freiheit. Das klingt allgemein und ist es auch, genau wie die nichtssagenden republikanischen Sonntagsreden der Linken wider Le Pen. Was die Sozialisten als Antwort auf (das von ihnen mitverantwortete) „Frankreich der zwei Geschwindigkeiten“ (zu deutsch: Zweidrittelgesellschaft) und den rabiaten Ellbogenindividualismus aufzubieten haben, muß erst noch realpolitisch präzisiert werden. „Republik“, „Europa“ und immer wieder „Modernisierung“ sind Floskeln, mit denen das Projekt einer „europäischen Linken“, also die Alternative zu Thatcher, Chirac und Kohl, immer wieder zugedeckt wird.

Die Nuance Rocard

Andererseits hat es seine Richtigkeit, daß Michel Rocard, einst Bannerträger der zweiten, der libertären Linken, und Hoffnungsträger im Pariser Mai, keinen neuen programmatischen Rundschlag wie 1972 („gemeinsames Regierungsprogramm“) oder 1981 (Mitterrands „110 Vorschläge“) macht oder sich etwa zu einem grandiosen Manifest des Selbstverwaltungs-Sozialismus aufschwingt. Weniger ist mehr. Rocard geht es um die Nuance, nämlich das bessere Mischungsverhältnis zwischen gesellschaftlichem Wandel und staatlicher Intervention und um die Realverfassung einer offenen, also nicht ethnisch-national exklusiven Gesellschaft. Das läuft eben nicht auf radikale Entstaatlichung hinaus, sondern geradezu auf eine Neubestimmung staatlicher Politik, vor allem des lokalen Wohlfahrtstaats. Ihr Gelingen hängt indessen, mehr denn je, von den Selbstregulierungsfähigkeiten der Gesellschaft ab nicht des Marktes, wie die gewendete Linke in Frankreich ein Jahrzehnt lang euphorisch geglaubt hat. Tarifautonomie, betriebliche Partizipation, Bürgerinitiativen und „Subpolitik“ konsultierender und kontrollierender Gremien sind die „aufregenden“ Themen einer anders interpretierten „linken Mitte“. Die zwiespältige Botschaft der Mai-Revolte 1968 lautete: gesellschaftliche Selbstverwaltung und individuelle Selbstverwirklichung; sie läßt sich heute nicht mehr als Anspruch an einen allmächtigen Planungsstaat zurücküberweisen. Michel Rocard an der Spitze eines hochzentralistischen Staatsapparates - es liegt an der französischen „zivilen Gesellschaft“, dies zu einer Ironie der Geschichte zu machen und nicht zum letzten Akt eines Trauerspiels.

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