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ORIGINAL UND FÄLSCHUNG

■ Das „Theatre de la Mandragore“ in der UFA-Fabrik

In Paris soll sich ein Zuschauer nach der Vorstellung des Brüsseler „Theatre de la Mandragore“ darüber beschwert haben, daß er für einen so hohen Eintrittspreis nur einen alten Film vorgesetzt bekam. Diese Anekdote ist garantiert nicht erfunden, denn was sich im Kinosaal der UFA-Fabrik 75 Minuten lang im Rahmen des Trans-Europa-Festivals abspielt, ist einem expressionistischen Stummfilm so täuschend ähnlich, daß sich das Publikum den Kopf darüber zerbricht, wie plötzlich nach dem Vorspann und den ersten Bildern die Dreidimensionalität zustandekommt. Bruce Ellison, Autor und, zusammen mit Michel Carcan, Regisseur von „L'etrange Mr. Knight“ (Der seltsame Mr. Knight) hat mit diesem Cinemodrame einen wahrhaft postmodernen Coup gelandet. Der Film, der auf perfekte Art die Wirklichkeit zu repräsentieren vermag, fungiert nun selbst als wirkliche Welt, die durch Schauspieler simuliert wird. Original und Surrogat sind nicht nur austauschbar, sondern verschmelzen miteinander durch die nahtlosen Übergänge vom Film zum Schauspiel. Die in zweistündiger Schminkarbeit (Bernard Floch) graugetönten Schauspieler agieren mit abgehackten, hastigen Bewegungen (16 Bilder pro Sekunde!) stumm und vollkommen geräuschlos. Der streng schwarz-weiß gehaltene Bühnenraum (Paul Tignee) ist durch eine Leinwand von den Zuschauern getrennt, auf die Dialogtexte und Filmsequenzen (Suzon Fuks, Bernadette Kluyskens) projiziert werden. Begleitet wird das Geschehen durch die virtuose Klaviermusik von Marc Herouet, der allabendlich neu seinen mit Zitaten gespickten Part improvisiert. So funktioniert es wohl im Prinzip, die Illusion ist aber so perfekt, daß Zauberei im Spiel zu sein scheint. Das international zusammengesetzte Team jedenfalls verrät seine Geheimnisse nicht.

Um Originale und Artefakte geht es auch im Stück selbst. Mr. Knight (wieder Michel Carcan) fabriziert in seinem Labor Menschen. Der riesengroße Prototyp namens Gabriel (Bruce Ellison) schleppt gerade neue Einzelteile in Form von Händen und Füßen für das nächste Modell heran, als Aurora (Sarah Lowe) den Trapper zu einer Landpartie abholen möchte. Der vertröstet sie auf später und wirft seine Höllenmaschine an, um die Körperteile zu beleben. Der Spaß wird jäh unterbrochen, als ein Polizist (Jacques Cappelle) den Tod des Töchterleins meldet. Der zu Tode betrübte Wissenschaftler will nicht mehr „lieber Gott“ sein, und nun kehren sich die Rollen um. Gabriel ist vom vielen Zugucken genauso schlau wie sein Schöpfer geworden, und während der im Fieberwahn deliriert (nach den Pianoimprovisationen von „Bruder Jakob, schläfst du noch...?“), macht sich das Monster selbst an die Arbeit. Heraus kommt Monster Nummer Zwei mit dem Kopf der schönen Aurora. Da will Mr. Knight dem ganzen Spuk ein Ende bereiten und steht mit Mordgelüsten plötzlich seinem Gabriel mit dem steinernen Herzen nicht mehr nach. Aber der Homunkulus wird jetzt von menschlichen Regungen heimgesucht und will leben und lieben („Parle moi d'amour“)...

Die Anleihen an Horror-Filme vom Typ Metropolis oder der Doktoren Mabuse oder Caligari sind offensichtlich. Für Cinephile, die in dieser perfekt inszenierten Stummfilmillusion das Feuerwerk an ironischen Anleihen goutieren können, ist dieses Spektakel ein ungeheures Vergnügen. Was die Reaktionen derjenigen betrifft, die sich auf die unendlichen Spiegelungen von Original und Surrogat nicht einlassen mögen, siehe oben.

Lieselotte Steinbrügge

Noch bis zum 26.6. jeweils um 21 Uhr, Samstag auch um 23 Uhr. Eintritt: 18 Mark, erm. 16 Mark

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