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Lüge und Zauberei

■ Morgen wird die Kunst-Biennale in Venedig eröffnet / Ein Spaziergang von Arno Widmann

Viel Schrott, viel Dekoratives hat die Vorbesichtigung des taz-Redakteurs erbracht. Der Ruhm Jasper Johns‘ blieb ihm auf der Biennale ein Rätsel, seine Bilder ließen den Berichterstatter vor allem gähnen. Aber neben den vielen Neins auch ein großes Ja: die Bilder und bemalten Holzplastiken von Cy Twombly. Neben der Kasseler Dokumenta ist die Biennale die größte Ausstellung zeitgenössischer Kunst. Ab morgen ist sie täglich (außer dienstags) bis zum 25.September geöffnet.

Ich war schon an ihnen vorbei gerannt, als ich sie bemerkte: George Segals Rush Hour, eine Gruppe von sechs Personen aus Bronze. Der Druck und die Belastung, unter der sie, sieht man sie näher an, stehen: im sanft beschatteten warmen Licht der Giardini fallen sie von ihnen ab. Die Einsamkeit, die Segals Figuren, wo immer ich sie sonst gesehen habe, ausstrahlen, hier ist nichts von ihr zu bemerken. Hier sind sie, wenn man an ihnen vorbei in die Ausstellung hastet, nichts als ein paar alte Miesgräme, die den Weg versperren.

Viel Schrott, viel Dekoratives. Bei ersterem gibt es große Unterschiede. Da sind die italienischen Abstrakten Piero Dorazio, Carla Accardi, die direkt für 'Schöner Wohnen‘ zu produzieren scheinen, oder der Däne Poul Germes, dessen freizeitfarbene Malerei nach der Ausschmückung eines mediterranen Swimmingspools geradezu schreit; da ist aber auch eine Kunst, die leicht als dekorativ mißverstanden wird, weil sie ihre Bedeutung nicht hinausschreit. Für manche zählen die Arbeiten Alberto Burris dazu. Bilder, auf denen es nur schwarz ist. Drei, vier verschiedene Schwarztöne, mit Zirkel oder Lineal voneinander abgehoben. Sie heißen Einbruch der Nacht. Mir ist das eine zu finstere Welt. Da wird die Arbeit zu sehr in den Kopf des Betrachters verschoben.

Ganz anders Franco Sarnaris Bilder. Sie sind von einer Sinnlichkeit, auf die der Körper reagiert, bevor der Verstand weiß, was er gesehen hat. Eine große sanft gepunktete Fläche, auf die meine Hand sie zu streicheln zugeht, bevor ich gemerkt habe, daß sie die Haut einer Frau ist. Die rechts und links ansteigende sich spannende Haut zwischen den beiden Brüsten. Ganz und gar nicht realistisch. Pointilistische Rasterpunkte in grün und schwarz steigern allerdings den sinnlichen Reiz eher noch, statt ihn zu brechen.

Fragment Ecce Homo hat Sarnari das Bild genannt. Warum er von einem der Kritiker zu den Rechten gezählt wird, weiß ich nicht. Es würde mich freilich nicht wundern, wenn der Sinn für den weichen Reiz des Weiblichen, für die Plastizität, die nach körperlicher Berührung verlangt, all das Dekadente und Morbide, zusammenginge mit einer politischen Einstellung, die nicht nach der Abschaffung dieser Genüsse, sondern nach ihrem hemmungslosen Auskosten riefe. Die Verleugnung der Sinne, ihre Dressur, das macht ja ein Gutteil der linken Geschichte aus.

Ganz anders Jasper Johns. Kühl, extrem unsinnlich, Man nehme Racing thoughts aus dem Jahr 1984, eine Collage auf Leinwand, in der nichts niemandem weh tut. Die Dinge sind da, wo sie sind, und Punkt. Ihr Ort ist keine Überraschung, auch das, daß es keine Überraschung ist, überrascht nicht; kurz gesagt: langweilig.

Nicht einmal vornehm ist diese Langeweile. Die Bilder strömen keine naserümpfende Überheblichkeit aus. Wären sie nicht vom berühmten Jasper Johns, man würde sich den drei Amerikanerinnen zuwenden, die blond und frisch aus der Dusche gekommen, vor Between the Clock and the Bed von 1981 stehen. Sie tragen weiße Leinenkleider, die vorne sich bei jeder Bewegung gerade soweit öffnen, daß die Neugierde angespitzt, nie aber befriedigt wird. Ein Kunststück, auf das Jasper Johns ganz und gar verzichtet. Er befriedigt sofort. Kaum hat man einen Blick auf eines seiner Bilder geworfen, geht's weiter zum nächsten. Sie lassen sich abhaken, in keinem verfängt man sich. Seine Weltgeltung, sein Ruhm - ein Rätsel, wenn man vor den Bildern steht. Daß an ihrer Sterilität sich etwas entzünden kann, und seien es auch nur die Geldbeutel der Milliardäre!

Die 35 Bilder von Aristarch Lentulov (1882-1943) im Salon der UdSSR belegen einmal mehr, daß es Kenntnislücken gibt, deren Wert sich einem sofort erschließt, wenn sie gefüllt werden. Da gibt es Bilder, die zeigen ein hochgetürmtes Moskau, dessen breite Kuppeln verschwinden in einem futuristischen Nach-oben-Gesteige. Die Farben eines Bildes aus dem Jahr 1913 erinnern so exakt an Macke, daß man anfängt, nach beider Biographien zu fahnden. Später dann die schrecklichsten Bauernbilder, die Pseudo-Naivität der dreißiger Jahre. Keine russische Spezialität.

Im vollgestopften Salon der DDR sind Blickfänge eine vor dem Fernseher onanierende Frau und ein Koloß, der von putzigwirkenden Krokodilen befallen wird. Beides sind Arbeiten der 1958 in Berlin geborenen Trakia Wendisch. Martin Hoffmanns Braunes Computerbüro fällt auf, angesichts der sonst im DDR-Pavillon sich überall aufdrängenden grellen Leiblichkeit.

Island ist auch vertreten. Gunnar Örn, geboren 1946 in Reikjavick, hat bei Clemente gelernt. Er ist ein wenig aggressiver als der Italiener, greller noch und ausgefallener in den Themen.

Im spanischen Pavillon fielen mir die Käfige aus Eisen und Marmor auf, die die 1946 in Barcelona geborene Susana Solano konstruiert. Sperrige Apparate, die wie Folterkammern wirken und denen sie so einladende Namen wie Geburt der Valentina gibt.

Felix Droeses Scherenschnitte sind ebenso belanglos wie seine Holzklötze, auf denen ein riesiger Holzrahmen liegt. Wütend macht die Begleitmusik. Ein Katalog, den Dierk Stemmler, „Kommissar (!) bei der Biennale di Venezia 1988“, geschrieben hat. Aufgespreizte Banalitäten („Dieser Katalog ist ein separates Medium“), Materialgeprunke ( „Das Holz des tonnenschweren Rahmenbalken stammt aus Surinam“) und was die Zitate angeht, unterhalb von Kierkegaard und Joyce läuft natürlich nichts. Der Höhepunkt an Schamlosigkeit stammt freilich vom Meister selbst. Über der Inschrift „Bundesrepublik Deutschland“ hat Felix Droese an der Außenseite des Pavillons angebracht: „Haus der Waffenlosigkeit.“ Eine Lüge. Wie man es dreht und wendet. Die BRD ist einer der größten Rüstungsproduzenten. Der Pavillon der BRD auf der Biennale ist nicht waffenloser als der der USA, der UdSSR oder aller anderen Staaten. Billige Spekulation wie diese Aufschrift sind auch Droeses Arbeiten. Da helfen die welthistorischen Hammerschläge im Katalog seines Werbetrommlers nicht: „In den Jahren 1979 bis 1981 führte Felix Droese die Werkgattung der monumentalen einfarbigen Papierschnitte in die Kunst ein.“

Interessanter ist Tony Craggs (Großbritannien) Inverted Shugar Crop. Zuckerrüben in einem Holzverschlag, nichts sonst. Ihre Form und das Arrangement machen sie zu Kinderköpfen. Einige davon mit struppigen Haarbüscheln, die meisten wie kahl geschoren. Soweit, so beeindruckend. Cragg fügte aber noch etwas hinzu: Er schnitt Augen, Nase und Mund in die Zuckerrüben. Der Schrecken ist weg, geblieben ist hilflos-angestrengte Fasnet-Komik. Alles verpatzt.

Viele Neins, kein großes Ja? Doch, doch. Cy Twombly. Er ist das Ereignis der Biennale. 13 Arbeiten sind von ihm zu sehen. Einige bemalte Holzplastiken und Bilder. Bilder - man sieht sie und weiß: Es sind Landschaften, atmende, weit durchatmende Landschaften. Wie wir diesem Eindruck verfallen, weiß vielleicht nicht einmal Cy Twombly. Er hat nur grüne Farbe, dazu etwas Weiß und Schwarz auf die Leinwand gegeben, sie verwischt und vertropft. Es gibt keine einzige Form auf diesen Bildern, die an Natur, an Baum und Wald, an Luft und Wolken erinnert, und doch ist das alles da oder besser: Die Idee davon. Cy Twombly hat die Idee der Landschaft gemalt. Direkt. Ganz ohne Landschaft. Der Betrachter blickt auf ein Bild. Er sieht Farbe, mal dick aufgetragen, mal platt verstrichen, aber sein Unterbewußtsein betrachtet eine Landschaft. Franco Sarnari erzielt einen ähnlichen Effekt durch Vergrößerung. Ein Taschenspielertrick im Vergleich zu Cy Twomblys Zauberei. Bei Twombly gibt es keine Auflösung. Kein Aha, das endlich eine Linie als Brustansatz entziffert. Umgekehrt: Je genauer man hinblickt, desto deutlicher wird, daß keine Linie eine Bedeutung hat, daß jeder Farbauftrag wie zufällig ist, form und gestaltlos, kein Ziel, keine Absicht. Wie die Natur selbst. Twombly bildet sie nicht ab, sondern tut es ihr nach. Das Geklatsche auf der Leinwand wird nicht beschönigt, nirgends verstrichen und begradigt. Chaotisch im einzelnen, produziert es im Betrachter einen großen Eindruck: den Anblick der Welt vor dem Auge Gottes.

Das Gewimmel wird nicht versteckt, sondern schon aus zwei Metern Abstand entsteht lebendige Ruhe. Ohne Verdrängung, ohne Betrug. Früher nannte man solche Erfahrungen die des Erhabenen. Twombly ist modern, und vielleicht darum hat er noch eins draufsetzen, einen Tick reingeben müssen, der dieser großen Wirkung - ohne ihr etwas zu nehmen - eine spielerische Ironie gibt, die die Bilder vollends zu Zauberei machen.

Da werden nicht nur Farben ausgestellt, und wie auch immer bedeutungsvoll gemacht, ohne daß sie auch nur im mindestens verändert würden. Twombly gelingt es, neben dieser ganz allgemeinen Erregung eine konkrete Erinnerung wachzurufen. Seine Bilder produzieren nicht nur das Erhabene auf blasphemisch-irdische Weise, sondern sie reproduzieren ein sehr konkretes Erhabenes: Landschaften von Claude Lorrain. Ohne die kleinste Anspielung. Ohne auch nur das geringste Augenzwinkern unter Kennern entsteht die genaueste Erinnerung, die exakteste Sehnsucht.

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