: Zwischen Tagtraum und Revolution
■ Die Darmstädter Ausstellung „That's Jazz - Der Sound des 20.Jahrhunderts“
Hartvin Möhrle
Jazz hat sie vorher nie gehört. Die ältere Dame kam in die Ausstellung, weil sie immer zu Ausstellungen auf die Darmstädter Mathildenhöhe geht. Jetzt läßt sie keines der Konzerte im Rahmenprogramm von „That's Jazz - Der Sound des 20.Jahrhunderts“ mehr aus. Eine türkische Reisegruppe diskutiert vor den Schautafeln mit den Koryphäen des Bepop über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Improvisationsweisen ihrer Musik und des Jazz. Der schwäbelnde Lehrer versucht mit funkelnden Augen, seinen Kids Jazz-Geschichte nahezubringen, und irgendwann schlendert der große Ornette Coleman unbemerkt von Schautafel zu Schautafel. Vor seinem eigenen Portrait hält er inne, verharrt kurze Zeit.
„Wir hätten das eigentlich machen müssen“, sagen gerade die amerikanischen Musiker, wenn sie vor oder nach ihren Konzerten durch die Ausstellung wandern. Sichtlich beeindruckt von der umfassend und klar nachgezeichneten Geschichte des Jazz schwingt dann ein wenig Stolz mit - man ist ja selbst ein Teil davon. Noch nie ist sie so komplex und dennoch übersichtlich dargestellt worden; den vier bedeutsamsten Buchstaben der jüngeren Musikgeschichte fehlte es zwar nicht an Episoden und Epochen, an Geschichten und Erzählern, den Mut zu einer Zusammenfassung allerdings hatte bisher noch niemand gefunden. Mag die vielfältige Struktur des Gegenstands, vielleicht auch die Angst, daran zu scheitern, oberflächlich als Begründung genügen, ein wenig unverständlich ist es schon.
Der US-Botschafter und Schirmherr der Ausstellung, Richard Burt, schreibt im Grußwort über die in der „afroamerikanischen Kultur“ wurzelnde „kulturelle Schöpfung Amerikas“. Das ist nicht ganz frei von ungewollter Ironie. Warum die erste Gesamtschau der „Negermusik“ nicht in den USA stattfindet, hat viele Gründe. Darmstadt aber ist nicht zufällig ihr Schauplatz geworden: Vor etwa fünf Jahren erwarb die Stadt das Jazz-Archiv von Deutschlands berühmtesten Jazz-Spezialisten Joachim-Ernst Berendt und gründete im städtischen Internationalen Musikinstitut ein Jazz-Zentrum. Auf dem umfangreichen Fundus der Sammlung aufbauend forschten die Ausstellungsmacher akribisch nach Instrumenten, Plakaten, Fotografien, Gemälden, Filmen und Dokumenten, die beredtes Zeugnis abgeben sollten, angefangen von den ersten Tönen des Jazz bis hin zu seinen gegenwärtigen Klängen.
Dessen Entstehung wird immer noch und immer wieder auf die gesellschaftliche Lage der unterdrückten Schwarzen vornehmlich im Süden der USA zurückgeführt. Natürlich hat er seine Wurzeln im Blues und den frühen Gesängen der Sklaven. Trotzdem ist das eines von vielen Mißverständnissen, die den Jazz seit Jahrzehnten begleiten; die Ausstellung tritt dem kompetent entgegen. Sie nimmt Bezug auf die afroamerikanischen Wurzeln, informiert über das Umfeld der verschiedenen musikalischen Einflüsse und macht gleichzeitig Schluß mit der ideologischen Verherrlichung der Entstehungsgeschichte des Jazz: „Es ist vielleicht tröstlich, zu wissen, daß dieses Bild des Jazz als einer primitiven Volksmusik nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Forschung, sondern der ideologischen Voreingenommenheit glühender Jazz-Verehrer in Amerika und Europa ist“, schreibt S.Frederick Starr in einem Beitrag zu dem hervorragenden und umfänglichen Ausstellungskatalog. Im New Orleans der Jahrhundertwende spielten die Blaskapellen - schwarze, weiße und gemischte - bei den zahlreichen Bällen und Tanzveranstaltungen zum allgemeinen Vergnügen der Leute. Kein Baumwollpflücker-Sound, eher schon versierte Musiker in baumwollenen Anzügen legten den Grundstein für das, was später Jazz wurde. Die besondere Situation New Orleans‘ leistete dem Jazz wesentliche Geburtshilfe. Verglichen mit dem Rest der USA weniger starke ethnische Ab- und Ausgrenzungen, eine stärkere, fast chaotisch anmutende Durchmischung der verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, und das aufkeimende Bedürfnis nach Tanz und Unterhaltung bildeten das kulturelle Klima, in dem die ersten Größen des Jazz geboren wurden. In dem halbseidenen Milieu der Clubs und Tanzlokale brachten es eine ganze Reihe von ihnen zu respektablem kommerziellen Erfolg. Starr bezeichnet den Jazz auch als die Musik der Aufsteiger. Seine Verherrlichung als akustische Gesellschaftstheorie der Unterdrückten dieser Welt gehört wohl eher in den Bereich der politischen Folklore. Daß mit den musikalischen Ausdrucksformen des Jazz später dann vielfach individueller und kollektiver Protest und Widerstand gegen gesellschaftliche Zustände und Befindlichkeiten verbunden war, ist eine andere Geschichte. Die Extreme im Jazz liegen so weit auseinander wie der Tagtraum und die Revolution.
Als komprimierte Reise durch die Geschichte des Jazz läßt die didaktisch ausgezeichnet angelegte Ausstellung kein wichtiges Bestandteil aus, informiert knapp und präzise, doch keinesfalls emotionslos. Vor dem Foto Charlie Parkers und seinem nach Darmstadt geholten weißen Kunststoffsaxophon verharren viele ältere Besucher in fast andächtiger Ruhe. In den Ton-/Bild-Kabinen wiederum lauschen Jugendliche konzentriert den Videos mit historischen Aufnahmen: Miles Davis ganz jung, so kennen sie ihn gar nicht. Und blickt man in die von Herbert Joos 1986 gemalten, hohlen Augen des kürzlich verstorbenen Cool-Jazz-Trompeters Chet Baker, dann wird Jazz auf eindringliche Weise lebendig; in diesem Fall als Überlebensmittel in der beständigen Tragödie zwischen Individuum und Gesellschaft.
Die berechtigte Frage nach dem Sinn einer Ausstellung über Jazz, dessen strukturelle Lebendigkeit musealer Verengung so sehr entgegensteht, wird klar beantwortet: Ja, so macht es Sinn. Den Ausstellungsmachern war klar, daß Jazz nicht dargestellt werden kann ohne seine unmittelbare Anwesenheit selbst. Die parallel stattfindenden Konzerte in dem eigens eingerichteten Raum in der Mathildenhöhe finden nicht nur wegen der großen Namen oder bestechenden Insider-Qualitäten der Bands großen Anklang. Nach dem Gang durch die Geschichte hocken die Besucher mit geschärften Sinnen dicht an dicht und hören den zeitgenössischen Jazz-Klängen viel konzentrierter zu als bei jedem anderen Jazz-Konzert. Das Darmstädter Projekt spannt einen weiten historischen Bogen. Er reicht von Johnny Steins „Original Dixieland Jazz Band“ bis zum „Art Ensemble of Chicago“, von der Blues-Sängerin „Bessy Smith“ bis zur Schlagzeugerin „Marylin Mazur“. Neben der amerikanischen Geschichte ist ein wesentlicher Teil dem europäischen Jazz gewidmet, die klassischen Stile und Formen werden ergänzt durch extreme Grenzbereiche des Jazz. Das alles fügt sich so schlüssig aneinander, daß man fast die Lücken vergißt, die Vertiefungen, die Verflachungen, die Widersprüche und Entwicklungen in den Personen, in der Musik selbst: Jazz als Corporate Identity, dahinter aber verbirgt sich erst das Geheimnis seines Erfolgs. In diesem Sinne ist die Ausstellung mehr Herausforderung als Erfüllung, auf jeden Fall eine bislang einmalige Chance für den Zugang zum Sound des 20.Jahrhunderts.
„That's Jazz - Der Sound des 20.Jahrhunderts“ Darmstadt, Mathildenhöhe, Tel. 06151/132778, vom 29.Mai bis 28.August, täglich von 10 bis 18 Uhr. Ausstellungskatalog 60 Mark, Veranstaltungsprogramm (Filme, Konzerte, Workshops).
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