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Der Kampf gegen die „weißen Flecken“

Das Verhältnis zwischen Polen und der Sowjetunion ist geprägt von „weißen Flecken“ in der Geschichte der beiden Länder / Ob sich Gorbatschow bei seinem heute beginnenden Besuch in Polen zur Katyn-Frage äußert, ist für die Polen von entscheidender Bedeutung  ■  Von Leonid Luks

Berlin (taz) - Michail Gorbatschow fährt heute in ein Land, das für die Mehrheit der Sowjetbürger eine Art Terra incognita darstellt. In mancher Hinsicht bildet Polen einen Gegenpol zur Sowjetunion, und bisher rief dieses Anderssein des Nachbarn in Moskau eher Mißtrauen hervor. Dies galt vor allem in bezug auf den Freiheitsdrang der Polen, der von der sowjetischen Führung oft mit Anarchismus gleichgesetzt wurde.

Nach dem Machtantritt Gorbatschows begann sich daran indes einiges zu verändern. So vermißten die sowjetischen Reformer in der Anfangsphase der Perestroika eine ausreichende Unterstützung der Bevölkerung für den neuen Kurs. Mit Neid blickten einige von ihnen in Richtung Warschau, denn dort war die Bereitschaft der Bürger, sich politisch zu engagieren, im Überfluß vorhanden. Neue Akzente in der Bewertung des polnischen Nationalcharakters wurden zum Beispiel im Februar 1987 im Gespräch zwischen dem Korrespondenten der Moskauer Zeitschrift 'Literaturnaja Gazeta‘ Leonid Potschiwalow und dem Politbüro-Mitglied der PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei) Jan Glowczyk deutlich: Potschiwalow äußerte seine Bewunderung für die freiheitlich-demokratischen Traditionen Polens: „Sogar ihre Könige haben die Polen selbst gewählt!“ Der Warschauer Politiker versuchte die Euphorie seines Gesprächspartners zu dämpfen und wies darauf hin, daß dieser Freiheitsdrang auch ein Schattendasein habe: Nicht selten habe er zur Anarchie geführt.

Aber auch das polnische Bild vom östlichen Nachbarn gerät in Bewegung. Denn die Veränderungen, die mit der Perestroika in die Wege geleitet worden sind, lassen sich mit der an der Weichsel verbreiteten Vorstellung vom unwandelbaren und despotischen Rußland kaum vereinbaren.

Der Warschauer Literaturwissenschaftler A.Drawicz, der zu den profundesten Rußlandkennern des Landes zählt, berichtete vor kurzem, mit welch außerordentlichem Interesse seine Landsleute die neuen Entwicklungen in der UdSSR verfolgen. Den Besuch Gorbatschows werden die Polen deshalb mit großem Interesse beobachten. Es ist vermutlich das erste Mal in der Geschichte, daß ein oberster Vertreter des östlichen Nachbarvolkes mit echter Sympathie rechnen kann.

In einer Umfrage des Instituts für Meinungsforschung rangiert Gorbatschow in der Beliebtheitsskala ausländischer Staatsmänner gleich hinter dem Papst mit 76,2 Prozent.

Dem Warschauer Literaturwissenschaftler Drawicz war aber auch aufgefallen, wie klischeehaft die Polen über die Sowjetunion urteilen und wie groß ihre Wissenslücken auf dem Gebiet sind. Dies ist auch nicht verwunderlich, wenn man das katastrophale Niveau der Forschung zum Thema polnisch -sowjetischer Beziehungen oder Geschichte der Sowjetunion in Polen bedenkt.

Die Forschung ist in Polen seit 1945 im Grunde geprägt von Tabus. Autoren, die sich damit nicht abfinden wollten, fühlten sich gezwungen, auf Nebenschauplätze auszuweichen und befaßten sich vornehmlich mit der Geschichte des 18. oder des 19.Jahrhunderts. Dennoch wurden sie auch dort von der Zensur aufgespürt: „Die Partei betrachtet die Kritik am Zarismus als eine versteckte Kritik an der Sowjetunion“. Diese Aussage eines hohen Funktionärs aus der Gierek-Zeit zitierte im Mai der polnische Historiker K.Zurawski in der 'Literaturnaja Gazeta‘.

Die Forderung nach Aufrichtigkeit bei der Behandlung der polnisch-sowjetischen Beziehungen gehörte zu den Hauptanliegen jeder „Tauwetterperiode“ an der Weichsel (1956, 1970/71, 1980/81). Diese Appelle wurden aber von der sowjetischen Seite in der Regel ignoriert.

Nun hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Diesmal war es nämlich ein sowjetischer Historiker, der den Stein ins Rollen brachte. Es handelt sich um Jurij Afanasjew einen der glühendsten Verfechter der Perestroika -, der im Oktober 1987 im Warschauer Parteiblatt 'Politykka‘ folgendes sagte: „Ich kann kein einziges Problem in der Geschichte der polnisch-sowjetsichen Beziehungen entdecken, vor dem wir fliehen müßten. Nicht einmal vor Katyn.“ Damit bezog er sich auf das Schicksal von 15.000 polnischen Offizieren, die 1939 der Sowjetarmee in die Hände gefallen waren.

Die Leichen von mehr als 4.000 wurden 1943 im Wald von Katyn gefunden. Es wird für die Polen entscheidend sein, ob sich Gorbatschow eindeutig zu dem Schicksal der Soldaten äußern wird. Falls Gorbatschow jetzt in Warschau zugeben sollte, daß die polnischen Offiziere Stalins Terror zum Opfer fielen, hat dies auch politische Bedeutung. Die Forderung der Londoner Exilregierung nach Zulassung neutraler Experten zur Untersuchung der Leichen von Katyn hatte Stalin im April 1943 den Vorwand geliefert, die diplomatischen Beziehungen zur Exilregierung abzubrechen und mit der Gründung des „Verbandes polnischer Patrioten“ und der Aufstellung polnischer Truppen den Grundstein für eine kommunistische Führung in Polen zu legen. Die Lüge über Katyn stand somit an der Wiege „Volkspolens“.

Schon die Worte Afanasjews wirkten befreiend auf die polnische Öffentlichkeit. Man kann sich von nun an auf sie berufen und sich auf diese Weise energischer als bisher mit den Geschichtsfälschern auseinandersetzen. Auch der Primas Glemp verlangte vor kurzem in einigen für die sowjetische Presse bestimmten Interviews die unverzügliche Aufklärung des Verbrechens von Katyn.

Diese Forderung steht durchaus im Einklang mit dem Vorhaben des radikalen Flügels der sowjetischen Reformbewegung. Für sie stellt die Bewältigung der stalinistischen Vergangenheit eine der zentralen Aufgaben der Perestroika dar. Da die sogenannten „weißen Flecken“ in der Geschichte der polnisch -sowjetischen Beziehungen - z.B. die Liquidierung der polnischen KP (1938), der Hitler-Stalin-Pakt, Katyn - in erster Linie aus der Stalin-Zeit stammen, können die polnischen Verteidiger der historischen Wahrheit auf die Unterstützung der Perestroika-Anhänger zählen.

Seit 1945 haben sie zum ersten Mal Verbündete innerhalb des sowjetischen Establishments. Aber auch ihre Gegner befinden sich dort - Kräfte, die in der propagandistischen Verklärung der Vergangenheit weiterhin ein Instrument für die Sicherung der bestehenden Machtverhältnisse sehen.

Zu ihnen gehört auch eine Reihe von Mitgliedern der gemeinsamen polnisch-sowjetischen Historikerkommission, die im Mai 1987 gebildet worden ist und deren Aufgabe in der Beseitigung der „weißen Flecken“ in der Geschichte besteht. Viele der hier vertretenen „Aufklärer“, und zwar sowohl aus dem polnischen als auch aus dem sowjetischen Lager, hatten sich noch vor kurzem an der Verdunkelung beteiligt, indem sie sich zu Katyn nicht eindeutig äußerten. Deshalb wird die Arbeit der Kommission in Polen eher mit Skepsis verfolgt, und zwar mit Recht. Die ersten Äußerungen ihrer Mitglieder klingen in der Tat nicht sehr ermutigend.

Indes handelt es sich hier im Grunde um ein zweitrangiges Problem. Denn außerhalb dieses Gremiums vollzieht sich in den beiden Gesellschaften ein gewaltiger Umdenkungsprozeß, der viele Denkklischees erschüttert und das gegenseitige Kennenlernen erleichtert.

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