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Deutscher Kolonialismus

■ Eine in der DDR erschienene Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ Togo belegt den mörderischen Charakter des wilhelminischen Kolonialismus

Christian Sauer

Einer hatte es gewagt: Kukowina. Eine Beschwerdeschrift hatte er dem kaiserlich-deutschen Gouverneur vorgelegt. In der stand nur, was alle schon wußten: daß die lokalen deutschen Verwaltungsbeamten in der deutschen Kolonie Togo herrschten wie kleine Zaren, daß sie Geld-, Vieh- und Prügelstrafen nach Belieben verhängten. Der Wille dieser sogenannten Bezirkshauptmänner war Gesetz und dieses Gesetz diente nicht zuletzt ihrer persönlichen Bereicherung. Das wußten alle, doch Kukowina, der zukünftige Häuptling des Ortes Atakpame in Zentraltogo hatte es laut gesagt.

Der Gouverneur nahm die Beschwerde kaum zur Kenntnis. Der angegriffene Bezirkschef jedoch, Geo A.Schmidt, verhörte Kukowina öffentlich vor 200 AfrikanerInnen. Kukowina blieb standhaft. „Die Leute haben jetzt Angst, diese hier zu sagen“, brachte er hervor, als niemand es wagte, seine Aussagen zu bestätigen. Schmidt nahm ihn 14 Tage in Untersuchungshaft. Drei Monate später, am 18.Januar 1903, starb Kukowina.

Kukowina war nur einer von vielen, die sich gegen die deutsche Kolonialherrschaft, zumindest aber gegen ihre brutalen Auswüchse wehrten. Ihnen allen gebührt wie Kukowina ein Ehrenplatz in der Ahnenreihe derer, die sich nicht einer deutschen Obrigkeit fügten. Die meisten dieser Menschen aber ließen keine Spuren in den Akten der Kolonialherren zurück oder wurden dort bisher nicht aufgespürt. Die Erinnerung an diesen einen, Kukowina, haben wir Peter Sebalds Buch „Togo 1884-1914“ zu verdanken.

Vor mehr als 30 Jahren, so sagt der Ost-Berliner Historiker, nahm er die erste Togo-Akte in die Hand. Nach zahlreichen kleineren Veröffentlichungen legt er jetzt eine akribische Gesamtdarstellung der kleinsten deutschen Kolonie in Afrika vor. Zwei Seiten nur, vonfast 800, sind dem Schicksal Kukowinas gewidmet, aber immerhin.

In den zahlreichen Quellenstücken, die Sebald ausgrub und (wenn auch z.T. suggestiv verkürzt) zitiert, lebt immer wieder schlaglichtartig die vergangene Lebenswirklichkeit deutscher Untertanen zweiter und dritter Klasse auf. Da liegt der Wert dieses Buches, das als Gegenstück zu der tendenziell verharmlosenden Studie des Amerikaners Arthur J.Knoll über die deutsche Kolonialherrschaft in Togo schon lange fällig war. Vor allem die Bestände des Reichskolonialamtes, heute in Potsdam gelagert, hat Sebald ausgewertet, Akten, die westlichen HistorikerInnen bisher nur sehr beschränkt zugänglich waren.

Insofern ist der Untertitel der Sebald-Studie zugleich ihr politisches Programm: „Eine Geschichte der deutschen 'Musterkolonie‘ auf der Grundlage amtlicher Quellen“. Der Mythos von der „Musterkolonie“ lebt in der Tat noch heute, nicht nur im Vokabular des bundesdeutschen „Traditionsverbandes ehemaliger Schutz- und Überseetruppen“. Jesco von Puttkamer, zu Beginn dieses Jahrhunderts Gouverneur und Landeshauptmann der Kolonie Togo, vertrat offiziell die Bundesrepublik bei den Unabhängigkeitsfeiern 1963 - aufs Freundschaftlichste, versteht sich. Noch in Amt und Würden, hatte er mit viel Sprachgefühl über seine Schützlinge formuliert: „Es ist doch so fürchterlich gleichgültig, ob irgendwo einer totgeschlagen wird.“ Franz -Josef Strauß, persönlicher Freund des diktatorisch regierenden heutigen Staatspräsidenten Eyadema, scheut sich nicht, „Stolz und Freude“ über die Leistungen deutscher Kolonialherrschaft kundzutun.

Nicht Eisenbahn und Lesebuch aber, sondern „Twenty-Five“, die 25 Hiebe mit dem Tauende, so glaubt Sebald, waren mehr als alle modernisierenden Maßnahmen das Symbol der 30 Jahre deutscher Herrschaft im Bewußtsein der AfrikanerInnen. Diese Auffassung erhellt zweifellos nur einen Ausschnitt des Gesamtphänomens und ist - gemessen an dem, was wir über dieses Bewußtsein wissen - kaum beweisbar. Doch entwickeln Sebalds Quellen eine eigene, qualitative Überzeugungskraft. Gerade das gebrochene Deutsch der Petition eines unbekannten Afrikaners an den deutschen Reichstag, spiegelt eindrucksvoll, wie die willkürlich verhängte Bestrafung mit dem Tauende vor sich ging: „Der Vollstrecker mit hinten gelegten Armen, langsam, taktisch Schritt, hin und her und ein bis zwei Minuten Pause, sodaß die Exekution etwa 30 Minuten dauert, mit Brülle: Achtung! 'Eins...Zwei‘ usw. wird geführt. Laute Gebrüll läßt nach paar Hieben wieder anfangen. 'Teufels Kind, ich lasse dich zum Tot prügeln bis du zum Teufel gehst, wenn du noch brulle‘! dann fängt an wieder.“

In den von Sebald ganz oder auszugsweise veröffentlichten Dokumenten gelingt dem DDR-Historiker etwas, das sein monumentales Buch auch über die sogenannten Fachkreise hinaus bedeutsam und lesenswert macht. Seit Jahrzehnten schließlich bemüht sich die Geschichtsschreibung des Kolonialismus darum, die „Perspektive der Betroffenen“ ans Licht der Geschichtsmäßigkeit zu befördern. Trotz neuer Methoden und guter Absichten verliefen diese Bemühungen oft erfolglos. Allein in der mündlichen Überlieferung, scheint die afrikanische Kollektiverfahrung der Fremdherrschaft noch weiterzuleben.

Sebald verschafft uns Einblicke in die deutschen Quellen, doch obwohl er keinen Zweifel läßt, wie wichtig ihm als Marxisten die beherrschten AfrikanerInnen sind, gelingt ihm das eher beiläufig. Denn sein theoretisches Konzept steht ihm dabei geradezu im Wege. Dieses nämlich reduziert die Kolonisierten letzlich zu Befehlsempfängern, zu „Dienstboten“ am unteren Ende einer Hierarchie, in der allein das deutsche Monopolkapital den Ton angibt. An keiner Stelle geht Sebald wesentlich über die Fragen und Begriffe hinaus, die Lenin in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ schon 1916 setzte. Nicht einmal als Anregung scheint Sebald die Ideen westlicher Marxisten wie Immanuel Wallerstein und Eric R.Wolf verarbeitet zu haben, die die Kulturen und Wirtschaftsräume der „Dritten Welt“ endlich als seit Jahrtausenden selbstbewußt und im eigenen Interesse handelnde Subjekte der Geschichte betrachten wollen, ohne dabei den zentralen Begriffen Abhängigkeit und Unterdrückung aus dem Weg zu gehen. Auch die intensive Theorie-Diskussion der DDR -Geschichtsschreibung in den achtziger Jahren hinterläßt keine Spuren in Sebalds Werk.

So kommt es, daß Entwicklungslinien und -möglichkeiten der Gesellschaften im Hinterland des kolonialen Togo allein von den Begebenheiten in der Metropole abzuhängen scheinen. Die ganze Vielfalt gesellschaftlicher Zustände, auf die die kolonisierenden Deutschen stießen, faßt Sebald unter „vorkapitalistische Gesellschaftsformationen“ und schlüsselt sie nur beiläufig an einer Stelle gemäß der moosbesetzten Stufenfolge marxistischer Gesellschaftstheorie auf. Da haben auch lenintreue MarxistInnen schon tiefer geschürft! Selbst das olle Gespenst, Marx hab‘ es selig, der „asiatischen Produktionsweise“ hätte hier ja schon weiterhelfen können.

Doch solche theoretischen Feinheiten scheinen Sebald nicht zu interessieren, und in der Tat, da ist Wichtigeres: Sebald vergißt nicht, wenn er von Paßpflicht, Rassismus und Zwangsarbeit unter deutscher Herrschaft berichtet, auf Parallelen zum Apartheidstaat Südafrikas hinzuweisen. Vor allem aber zielt seine gesamte Darstellung darauf ab, endlich mit dem Mythos von der „Musterkolonie“ aufzuräumen. Unter diesem Etikett mißbrauchten deutsche Kolonialkreise Togo als Aushängeschild einer sinnvollen, finanziell vertretbaren und „eingeborenenverträglichen“ Kolonialpolitik, was angesichts der Skandale und Finanzierungslücken in den anderen deutschen Kolonien auch bitter nötig war. Sebalds Argumente allerdings sind im einzelnen nicht neu. Sie werden seine wissenschaftlichen GegnerInnen kaum zum Kniefall zwingen.

Und doch entwickelt Sebalds Gesamtdarstellung, u.a. durch ihre überzeugende Gliederung in abwechselnd chronologisch, strukturell und geographisch orientierte Kapitel, eine Überzeugungskraft, an der niemand mehr wird vorbeigehen können. Das gilt besonders für das Problem der „Befriedung“ des deutschen Herrschaftsraumes. Durch eine eindrucksvolle Aufstellung aller Gefechte und Opfer der „Polizeitruppe“, wie sie beschönigend genannt wurde, beweist Sebald, was der Kolonialarzt Külz bereits 1906 feststellte: “...ein altes, hartnäckig immer wieder aufgetischtes Märchen ist es, wenn die Erschließung Togos so hingestellt wird, daß die Eingeborenen die ersten Deutschen mit offenen Armen empfangen hätten. Sämtliche Stämme haben erst 'verhauen‘ werden müssen.“

Vieles bleibt im Dunkeln, weil Sebald seinen Blickwinkel lupenhaft auf die z.T. skurilen Verfehlungen des kolonialdeutschen „Togoklüngels“ verengt. Dabei verliert er weltwirtschaftliche Zusammenhänge der kolonialen Ausbeutung, aber auch die Beziehungen der „Musterkolonie“ zu anderen „Schutzgebieten“ aus den Augen. Er überzieht so die Rolle der nur wenig über eine Million EinwohnerInnen zählenden Kleinkolonie als Mikrokosmos des wilhelminischen Imperialismus. Insofern leistet Sebald weniger als er vorgibt. Nicht die zuweilen emüdende „antiimperialistische“ Polemik unterscheidet ihn letzlich von der bürgerlichen Geschichtsschreibung, sondern daß er Afrikaner so ausführlich wie möglich zu Wort kommen läßt, indem er die dunkelsten Seiten deutscher Gewaltherrschaft aufdecken will.

So lernen wir Neues zur spezifisch deutschen Banalität des Bösen: Ein Bezirksleiter schlug vor, „Eingeborene, die auf dem Disziplinarwege zu bestrafen seien und denen man keine Prügelstrafe zudiktieren wolle, längere Zeit, bis zu 8 Stunden, auf der Wache stehen zu lassen. Aus Humanitätsrücksichten sei gegen dieses Stehen auf der Wache nichts einzuwenden“, heißt es in einem Protokoll. Ein 80 Jahre alter Afrikaner kam dabei um.

Peter Sebald, Togo 1884-1914. Eine Geschichte der deutschen „Musterkolonie“ auf der Grundlage amtlicher Quellen, Berlin (Akademie-Verlag) 1988.

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