Verzweifelt hungern und maßlos essen

■ Immer mehr Menschen wenden sich mit Eßstörungen an die Beratungsstelle „Dick und Dünn“ / Magersucht und Bulimie nehmen vorwiegend bei Frauen und Mädchen zu / Selbsthilfegruppen sollten Ergänzung zur Therapie sein

Die 16jährige Nicole B. leidet an Magersucht. Sie erkennt, daß sie ihre Probleme nicht alleine lösen kann, und sucht in der Innsbrucker Straße die Beratungsstelle „Dick und Dünn“ auf, um in einer Selbsthilfegruppe Verständnis und Unterstützung zu bekommen. Doch diese Hilfe reicht nicht aus, Nicole magert zusehends ab, die Mitarbeiterinnen von „Dick und Dünn“ legen ihr eine Therapie nahe. Für ein halbes Jahr versucht Nicole B. verzweifelt, sich in einer Klinik einer Behandlung zu unterziehen, doch die Therapievorschläge greifen nicht. Keiner der Ärzte scheint in der Lage zu sein, Zugang zu ihren Problemen zu finden. Ihr Gewicht sinkt auf 22 Kilo ab. Auch eine Zwangsernährung nützt nichts mehr, da die meisten Organe schon zu sehr geschädigt sind - das Mädchen stirbt.

Dieses Schicksal, so geschehen im vergangenen Jahr in Berlin, ist bislang das Schlimmste, was die Beratungsstelle „Dick und Dünn“ in ihrer Praxis erlebt hat. Aber es ist kein Einzelfall, weiß Silvia Beck, eine der Mitarbeiterinnen des gemeinnützigen Vereins für Beratung bei Eßstörungen. „Es gibt zu wenig gute Therapeuten“, erklärt sie, „die mit dem Thema vertraut sind!“

Das beweist nicht nur die traurige Bilanz, nach der rund zehn Prozent aller Magersüchtigen an ihrer Krankheit sterben, sondern auch der rege Zulauf, den „Dick und Dünn“ seit Beginn der Beratung vor drei Jahren hat. Betreuten die neun Mitarbeiterinnen 1985/86 rund 200 Freß- und Magersüchtige, so verdoppelte sich im vergangenen Jahr die Anzahl der Hilfesuchenden. Rund ein Drittel von ihnen litt an Bulimie, 15 Prozent waren magersüchtig, und zehn Prozent der Ratsuchenden gehörten zur Familie oder zum Freundeskreis der Betroffenen. „Wenn noch mehr Leute kommen, platzen wir bald aus den Nähten“, erklärt Silvia Beck, und dabei sei die Finanzierung des Projekts für die nächsten Jahre noch nicht einmal gesichert.

Bislang fließen aus dem Selbsthilfefonds des Senators für Gesundheit und Soziales rund 70.000 Mark jährlich in die Beratungsstelle. Bezahlt werden lediglich die Büromiete und zwei halbe Stellen. Die meiste Arbeit der neun Frauen, unter ihnen zwei Psychologinnen, zwei Sozialpädagoginnen, eine Ärztin und zwei Frauen mit langjähriger Beratungserfahrung, ist also ehrenamtlich. Für das nächste Jahr hofft der Verein in das Senats-Dauerfinanzierungsprogramm für Selbsthilfeprojekte zu kommen, denn andere Geldquellen gibt es nicht.

Überwiegend sind es Frauen, die sich mit Eßstörungen an die Beratungsstelle wenden. Die Ursachen und Gründe ihrer Probleme sind vielschichtig und lassen sich nicht nur auf das gesellschaftsgeprägte Idealbild der „schlanken Frau“ reduzieren. So gibt es zum Beispiel Suchtverlagerungen von Alkohol und Drogen zum „Großen Fressen“.

Um frühzeitig auf die Probleme, die zu Eßstörungen führen können, hinzuweisen, bietet „Dick und Dünn“ seit dem vergangenen Jahr auch eine Schülerberatung an und versucht jetzt in einigen Schulklassen im Unterricht über das Thema zu informieren. Das Interesse sei groß und die Notwendigkeit anscheinend auch, denn, so Silvia Beck, „ich sehe in jeder Klasse bestimmt eine Magersüchtige da rumtanzen“.

Eine Schülerselbsthilfegruppe hat sich zwar bereits gebildet, doch um noch mehr Aufklärungsarbeit zu leisten, fehlt den Frauen die Zeit. Im vergangenen Jahr trug „Dick und Dünn“ zur Gründung von 25 Selbsthilfegruppen mit jeweils acht bis zehn Betroffenen bei, in diesem Jahr gibt es bereits 18 neue. Ungefähr die Hälfte aller Hilfesuchenden probiert es zum ersten Mal, gegen ihre Eßstörungen anzugehen. Ein Viertel hat bereits zahlreiche gescheiterte Diätversuche oder Psychotherapien hinter sich und einige sind in Therapie und halten eine Selbsthilfegruppe für eine sinnvolle Ergänzung.

Und als Ergänzung sollte die Selbsthilfe eigentlich auch gedacht sein. Therapien scheinen jedoch Mangelware zu sein. Für Klinikplätze bestehen halbjährige Wartezeiten, Gruppentherapien gibt es gar nicht und „die Krankenkassen geben zwar Millionen für Kuren und Diäten aus, aber Therapiegespräche für einzelne oder Familien finanzieren die wenigsten“.

„Dick und Dünn“ fordert deshalb die Einrichtung einer professionellen Beratungsstelle, in der Therapien angeboten werden, um dann in Zusammenarbeit mit den Selbsthilfegruppen für Eßgestörte eine fundierte Betreuung zu ermöglichen.

Annette Schmidt

„Dick und Dünn“ hat ihre Beratungsstelle in der Innsbrucker Straße 42, 1/62, Tel.: 7822577. Die Beratungszeiten sind Mi von 18 bis 19.30 Uhr, Sa von 14 bis 16 Uhr und Di speziell für SchülerInnen von 14 bis 17 Uhr.