piwik no script img

Marxismus und Revolution in Lateinamerika

■ Anmerkungen zu einem neuen Buch von Michael Löwy

Eckhard Voss

Der in Brasilien geborene und in Frankreich lebende Sozialwissenschaftler Michael Löwy hat den Versuch unternommen, auf knappen 100 Seiten „einige Anhaltspunkte für das Studium der Entwicklung des marxistischen Denkens in Lateinamerika zu liefern.“ Der Text wurde ursprünglich als Einleitung zu einer umfassenden französischsprachigen Anthologie des lateinamerikanischen Marxismus verfaßt. Die 400 Seiten Primärquellen, die der Einleitung im Original fogen, werden beim Lesen sehr vermißt, weil der Text eine Fülle uns unbekannter Quellen zitiert, die sich leider nicht nachlesen lassen.

Löwy sieht „die Definition des Charakters der Revolution auf diesem Kontinent ..., die das Ergebnis einer bestimmten Analyse der Gesellschaftsformationen Lateinamerikas und zugleich Ausgangspunkt für die Formulierung einer politischen Strategie und Taktik“ (9) (ist), als das Hauptproblem des Marxismus in Lateinamerika. Das Ausmaß imperialer Fremdbestimmung vor allem durch die USA, die Abhängigkeit von internationalen Wirtschaftsinteressen und der autoritäre Charakter der politischen Regime haben schon immer die Aktualität der sozialistischen Revolution und den Bruch mit der kapitalistischen Logik begründet.

Interessant ist nun, wie die wichtigen Detailfragen der Revolution - Bündnispolitik, Parteiorganisation, bewaffneter oder friedlicher Charakter, politische Etappen des Kampfes usw. beantwortet wurden. Für Löwy sind es vor allem zwei „entgegengesetzte Versuchungen“, denen der lateinamerikanische Marxismus von Anfang an ausgesetzt war: dem „indoamerikanischen Exotismus“ und dem „Eurozentrismus“. Da der indoamerikanische Exotismus für Löwy gekennzeichnet ist durch die Verabsolutierung lateinamerikanischer Besonderheiten und die Ablehnung des Marxismus zugunsten eines „eklektischen Populismus (man könnte auch von einem Latin American Dream“) sprechen, wird er in der Darstellung leider nur am Rande behandelt. Denn Löwy sieht den „verheerenden Einfluß“ des Eurozentrismus auf den lateinamerikanischen Marxismus als zentral an. Seit der Entstehung der ersten moskauorientierten kommunistischen Parteien in den 20er Jahren ist das Kennzeichen des Eurozentrismus die mechanische Übertragung europäischer Entwicklungsmodelle auf Lateinamerika als ein „tropisches“ und 100 Jahre zu spät gekommenes Europa. Dadurch wurde nicht nur eine eigenständige Analyse der besonderen Gesellschafts und Produktionsverhältnisse, sondern auch die Entwicklung der sozialen Revolution selbst behindert. Denn im Rahmen der sogenannten Etappentheorie wurde für ein als feudal gekennzeichnetes Lateinamerika zunächst eine Etappe der national-kapitalistischen Entwicklung vorausgesehen und propagiert, alle sozialrevolutionären Versuche als voluntaristisch und schädlich verurteilt und Bündnisse mit bürgerlich-kapitalistischen Kräften gesucht. Die blinde Abhängigkeit von der Komintern-Strategie und den Wendungen der stalinistischen Außenpolitik hatte zur Folge, daß die kommunistischen Parteien seit den 30er Jahren bis auf wenige Ausnahmen (El Salvador 1932, Guatemala 1951-54) keinerlei Rolle in revolutionären Bewegungen spielten, diese sogar wie im Kuba und Bolivien der 40er Jahre bekämpften.

Aus der Kritik am Konservatismus der kommunistischen Parteien und der Etappenkonzeption entwickelten sich die wichtigsten Beiträge eines eigenständigen und „schöpferischen“ lateinamerikanischen Marxismus. Für Löwy sind dies das theoretische Werk des Peruaners Jose Carlos Mariategui (1894-1930) und die kubanische Revolution 1959: Die Schriften Mariateguis stellen den ersten Versuch einer marxistischen Analyse der lateinamerikanischen Wirklichkeit dar, die den sozialistischen und antiimperialistischen Charakter der Revolution betont und Besonderheiten wie Agrarstruktur oder Indio-Frage mit einzubeziehen sucht. Im Gegensatz zur stalinistischen Periode der 30er bis 50er Jahre widmet Löwy diesem ersten und eigenständigen Sozialismus nur wenige Seiten. So fehlt etwa der Rekurs sowohl auf die mexikanische Revolution von 1910-17 als auch auf die Studentenbewegung nach 1918 („Reform von Cordoba“). Dies ist bedauerlich, denn beide Ereignisse markieren den Beginn einer Ära sozialen und politischen Reformdranges und waren das Vorbild für die meisten sozialistischen Parteigründungen in ganz Lateinamerika. Ihr Beispiel verdeutlich aber auch etwa anderes: Die Periode des „Ersten Kommunismus“, wie Löwy sie nennt, ist weitaus mehr gekennzeichnet durch den Glauben an die Reformierbarkeit des Staates, als durch das Ziel seiner Abschaffung, und sie wird eher verkörpert im Typus des Intellektuellen und Studenten mit kleinbürgerlicher Herkunft als durch volkstümliche Massenbewegungen. Dem Marxismus der intellektuellen und politischen Avantgarde steht in den meisten Ländern Lateinamerikas eine Volkskultur entgegen, die mehr durch Nationalismus und Patriotismus als durch proletarischen Internationalismus geprägt ist und deren Forderung nach sozialer Reform und politischer Partizipation sich nicht unbedingt an sozialistisch orientierte Adressaten richtet. Hier hat der „indoamerikanische Exotismus“, den Löwy leider zu früh ausschließt, seine Massenbasis. Denn ohne sie kann weder der Erfolg des Populismus der 30er und 40er Jahre mit seinen Caudillos Peron, Vargas oder Cardenas, noch das heutige Phänomen des „sozialdemokratischen Populismus“ eines Garcia in Peru, Alfonsin in Argentinien oder Sarney in Brasilien begriffen werden.

Diese ernüchternden Fakten sollten im Gedächtnis behalten werden, wenn es daran geht, aus den revolutionären Erfolgen in Kuba und Nicaragua Schlußfolgerungen für die revolutionären Potentiale in Lateinamerika insgesamt ableiten zu wollen. Sicherlich beginnt mit der kubanischen Revolution eine neue Periode der Erneuerung des lateinamerikanischen Marxismus und „der Emanzipation von dem Modell eines Marxismus-Leninismus, wie er von der Sowjetunion verbreitet wird“ (69). Aber stellt sie wirklich einen „wesentlichen Wendepunkt in der Geschichte des Marxismus in lateinamerika“ (59) dar? Und beweist die nicaraguanische Revolution wirklich „das Andauern dieser Dynamik, die sich heute in neuen Formen auf dem gesamten Kontinent zeigt“ (77)? Die Einheit von politischer Organisation bzw. Führung und einer revolutionären ländlichen (Kuba) und städtischen (Nicaragua) Volksbewegung, die die Revolutionen in beiden Fällen auszeichnet, stellt wohl eher die Ausnahme denn die Regel dar. Nicht nur scheiterten die focuistischen Guerillagruppen, die nach dem kubanischen Vorbild in vielen Ländern entstanden, „als Folge ihrer 'militärischen‘ und voluntaristischen Orientierung“ (65). Sondern auch der Aufschwung linkskommunistischer Parteien und Gewerkschaften, der sich z.B. in Chile, Argentinien, Bolivien oder Mexiko vollzog, scheint eher dem autoritären Antikommunismus und den Militärdiktaturen der 60er und 70er Jahre den Boden geebnet zu haben als der sozialen Revolution. Aus gutem Grund handelt der letzte Teil von Löwys Darstellung fast ausschließlich von Mittelamerika: Hier ist die revolutionäre Dynamik, die nach 1979 eingesetzt hat, unübersehbar. Aber die sozialen, ökonomischen und politischen Verhältnisse in El Salvador oder Guatemala sind denen in Nicaragua vor 1979 sicherlich verwandter als die Situation in Chile, Argentinien oder Venezuela.

Eine Bilanz der Revolution und des Marxismus in Lateinamerika hinterläßt ein zweispältiges Bild: Die Revoluion hat zwar in Kuba und Nicaragua gesiegt, ist jedoch in El Salvador 1932, in Brasilien 1935, Guatemala 1954, der Dominikanischen Republik 1965, in Bolivien 1969, in Chile 1973 und zuletzt in Grenada ofmals durch tatkräftige Unterstützung der USA der Reaktion zum Opfer gefallen.

Dagegen sagt Julio Cortarzar: „Wenn Elefanten ansteckend sind, wie die Surrealisten behaupten, dann sind es Kuba und Nicaragua noch viel mehr. Und gegen diese Krankheit ist kein Kraut gewachsen“.

Michael Löwy: Marxismus in Lateinamerika 1909-1987; isp -Verlag Frankfurt a.M 1988; 2. überarb. u. erweitert. Fassung; 108 S., DM 14,80

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen