: AIDS und Kirche-betr.: Artikel zur EKD-Broschüre, taz vom 29./30.7.88
betr. Artikel zur EKD-Broschüre, taz v. 29./30.7.88
Manfred Kriener verwendet in seiner berechtigten Kritik des AIDS-Papiers der EKD das Gegensatzpaar Erbsünde Nächstenliebe. Er setzt das gleich mit dem Gegensatz alttestamentarisch-christlich. Dies ist nicht korrekt. Die Christen sollen, bitte sehr, aufhören, sich als Vertreter der lichten Aufklärung gegenüber dem finsteren vorchristlichen jüdischen Gedankengut aufzuspielen. Vielmehr spiegelt die Betonung der Nächstenliebe oder der Erbsünde den Streit zweier Strömungen innerhalb des Christentums wider. Der Begriff „alttestamentarisch“ taugt als Kampfbegriff in dieser Auseinandersetzung gegen die „Erbsündisten“ wenig. Denn nicht die Erbsünde ist „alttestamentarisch“, sondern die Nächstenliebe. „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ steht als Gebot in den fünf Büchern Mose und muß als solches Gebot von frommen Juden beachtet werden.
Die Erbsünde dagegen ist die sehr unlogische Deutung, die christliche Autoritäten der biblischen („alttestamentarischen“) Paradiesgeschichte gegeben haben. Die Geschichte geht so: Es gab den Baum des Lebens und den Baum der Erkenntnis. „Götter“ (so heißt Gott in der Schöpfungsgeschichte) verbot den Menschen, davon zu essen, aber die Frau pflückte vom Baum der Erkenntnis, die Menschen aßen die Frucht, gewannen dadurch Erkenntnis (als erstes die, daß sie nackt waren: sie schämten sich) und wurden zur Strafe aus dem Paradies vertrieben: dem Adam wurde Arbeit und der Eva schmerzvolles Gebären aufgehalst. Die ganze Geschichte hat offensichtlich ein ähnliches Thema wie der Prometheus-Mythos: daß die Fähigkeit zur Erkenntnis eine Verlockung ist und ein Fluch. Adam und Eva hätten stattdessen auch vom anderen Baum essen können: vom Lebensbaum. Dann wären sie unsterblich geworden. Natürlich wären sie zur Strafe dann auch aus dem Paradies vertrieben worden, denn „Götter“ hatte ihnen diesen Baum genauso verboten wie den Erkenntnisbaum.
Die Erbsündisten behaupten dagegen, die Geschichte sage, daß der Tod - und damit die Krankheit - wegen der Sünde über die Menschen gekommen sei: Die Menschen seien vor der Sünde unsterblich gewesen. Das ist natürlich Quatsch, denn wozu stand da der Baum des Lebens, wenn Adam und Eva sowieso unsterblich waren? Ich denke, die Erbsündisten haben die Geschichte so un-alttestamentarisch gedeutet, so wider den Schrifttext, weil sie vom Gedanken beseelt waren, daß Leiden, Schmutz und Krankheit nicht zum Leben dazugehören, sondern ihm äußerlich sind. Das ist eine Illusion, die wir alle haben. Sie ist leider falsch: Krankheit und Tod gehört zum Leben, und die AIDS-Kranken auszugrenzen, heißt, diese Selbstverständlichkeit nicht wahrhaben zu wollen.
Rolf Verleger, z.Zt. Lübeck
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