Die Hormonkur

„Rosie Maria ist 15 Monate alt. Sie macht die Windeln naß, nuckelt am Daumen und hat seit kurzem ihre Tage. Auch Iris, 17 Monate alt, menstruiert regelmäßig. Beiden Kleinkindern wachsen schon Brüste.“ Die ungewöhnliche sexuelle Frühreife der beiden Kinder, über die der 'Spiegel‘ berichtete, haben ihre Ursache in unfreiwilligen Hormoneinnahmen. Die Hormone stammen aus der Mast von Kälbern, Bullen und Geflügel. 1984 schätzten amerikanische Ärzte, daß in den USA mehrere Tausend Kinder durch hormonverseuchte Nahrungsmittel erkrankt sind.

In der Bundesrepublik ist eine solch alarmierende Häufung von Kindererkrankungen und sexueller Frühreife bisher nicht festgestellt worden, doch Östrogenfunde in Kalbfleisch sind auch hierzulande noch in guter Erin nerung: Zum Jahreswechsel 1980/81 wurde die Republik vom sogenannten Östrogenskandal erschüttert. Zuerst in der Babynahrung, später auch direkt im Kalbfleisch hatten die Lebensmittelkontrolleure Hormonrückstände gefunden. Über Nacht mußten 'Hipp‘ und 'Alete‘ die Regale leerräumen. Mehrere Monate lang wurden auch aus Italien und Frankreich immer neue Sünder gemeldet, in der gesamten EG verzeichnete der Kalbfleischmarkt schwere Einbußen. Vereinzelt wurden Verbraucherboykotts ausgerufen.

Es dauerte sechs Jahre, bis endlich EG-weit der Hormon -Einsatz in der Kälbermast verboten wurde. In der Bundesrepublik war ein solches Verbot schon 1977 ausgesprochen worden. Doch ein grauer Tierarzneimittelmarkt, auf dem tonnenweise illegal Medikamente und Masthilfen verschoben werden, beliefert weiter Bauern und Mäster. Bis heute.

Der Einsatz von Hormonen lohnt sich. Durch die Gabe von Östradiol, das jetzt in Nordrhein-Westfalen gefunden wurde, kann in einer Mast pro Tier zehn bis 15 Kilogramm mehr Gewicht gemacht werden, ohne einen Pfennig für zusätzliches Futter auszugeben. Die Hormonspritze ist der ideale Wachstumsbeschleuniger. Für den Verbraucher sind die Hormonrückstände je nach Dosis und Hormongabe unterschiedlich gefährlich. Wer ein Fleischstück mit einer Einstichstelle erwischt, an der sich vielleicht noch ein Rest „Depot“ der Hormoninjektion befindet kann schwere Gesundheitsschäden davontragen. Einige Mittel gelten als krebserzeugend.

Kälber leben, bevor sie geschlachtet werden, etwa 20 bis 22 Wochen. Sie werden auf 200 Kilo hochgemästet. In engen Stallungen, die Gewichtsverluste durch zu viel Bewegung verhindern, sollen sie möglichst schnell auf möglichst viel Gewicht kommen.

In der Bundesrepublik war es nach den Alarmmeldungen von 1980 zunächst ruhig geworden. Am 11.März 1981 meldete der damalige Landwirtschaftsminister in NRW, Hans-Otto Bäumer, der einen leidenschaftlichen Kampf gegen die „Mast-Mafia“ führte, das bevölkerungsreichste Bundesland sei „östrogenfrei“.

Doch schon 1984 und 1985 wurde die Polizei wieder fündig. Diesmal in Niedersachsen. Bei einer Razzia hatte die Sonderkommission des Landeskriminalamtes (siehe Interview) einen Händlerring ausgehoben und illegale Tierarzneimittel im Wert von 500.000 Mark beschlagnahmt. Im August 1985 schritt die „Soko Sau“ erneut zur Tat. Bei einem Landwirt in Echteler, Landkreis Bentheim, fand sie 250 Flaschen mit Wachstumshormonen für die Kälbermast. Sie lagen im Vorgarten, unter Tannenbäumen verscharrt.

Manfred Kriener