: Chronologie einer Eskalation „Prager Frühling“
5.1.1968
Reformer in der KPTsch zwingen Antonin Novotny, Parteichef seit 1953, zum Rücktritt. Alexander Dubcek wird zum Ersten Sekretär der KPTsch gewählt.
21.1.
ZK-Mitglied Josef Smrkovsky fordert freien Meinungsaustausch über alle Probleme des Landes und kündigt ein Aktionsprogramm an.
29.1.
Dubcek in Moskau: „Völlige Übereinstimmung in allen Fragen“
-„freundschaftliche und herzliche Atmosphäre“.
22.2.
20-Jahr-Feiern zur Machtübernahme der KPTsch. Erste Eintrübung der „herzlichen Atmosphäre“: Dubcek muß auf Drängen Breschnews seine Festrede ändern.
Im Gewerkschaftsorgan 'Prace‘ werden die Opfer des Stalinismus als „wahre Freunde des Volkes“ gewürdigt.
29.2.
Der Philosoph Ivan Svitak fordert in 'Literarni Listy‘ die „Liquidierung des Machtmonopols“ der Partei.
5.3.
ZK-Tagung - Kritik am „zentralen Publikationsausschuß“. Jiri Hendrich verliert seinen Posten als Chefideologe der Partei. - Die Zensoren werden arbeitslos.
11.3.
Die Presseagentur CTK veröffentlicht Forderungen nach Entmachtung der Geheimpolizei. - Die politischen Emigranten werden zur Rückkehr in die CSSR aufgefordert.
13.3.
Massenversammlung im „Slavischen Haus“ in Prag. Smrkovsky zu den Studenten: „Ihr habt das Recht, radikal und revolutionär zu sein.“
14.3.
KPTsch schwärmt von der „großen schöpferischen Kraft der Erneuerungsbewegung“, warnt aber vor der „Entfesselung der Leidenschaften“.
20.3.
Produktionskapazität der Prager Zeitungsdruckereien vorübergehend erschöpft. Auflagensteigerung seit Januar: 440.000.
21.3.
Rücktritt Antonin Novotnys als Staatspräsident. Das Signal wird verstanden: 50 führende Funktionäre der „alten Garde“ nehmen ihre Hüte.
23.3.
Dresdener Treffen der Warschauer-Pakt-Staaten. Druck auf Dubcek. Das Kommunique verzeichnet wohlwollend, man sei überzeugt, daß die CSSR auch „weiterhin den sozialistischen Aufbau gewährleisten wird“.
25.3.
Dem DDR-Chefideologen Haager kommen Zweifel. Eröffnung der Pressekampagne gegen den Prager Reformkurs. Die tschechoslowakische Regierung protestiert beim DDR -Botschafter. „Rude Pravo“: „Wir regeln unsere Angelegenheiten selber!“
30.3.
Ludvik Svoboda - „Held der Sowjetunion“ und Träger des Leninordens - wird neuer Staatspräsident.
4.4.
Vaclav Havel ruft zum „öffentlichen und legalen Wettstreit um die Macht“ auf.
5.4.
Verabschiedung des „Aktienprogramms“ für den künftigen Reformkurs. Umbildung des Parteipräsidiums.
3.-5.5.
Parteidelegation der KPTsch zum Rapport in Moskau. - Sie wird dort „mit einer Anzahl bestimmter Tatsachen konfrontiert“.
6.5.
Innenminister Pavel gibt den Abbau aller in der CSSR installierter Abhöranlagen bekannt.
9.5
Präsident Svoboda verkündet eine Amnestie für die ca. 100.000 politisch Verurteilten.
8.5
Geheimverhandlungen der Bruderländer in Moskau über die Entwicklung in der CSSR. Nicht vertreten: die CSSR. Ulbricht fordert die Stationierung von Warschauer-Pakt-Truppen in der CSSR und bietet die Beteiligung der Volksarmee an. Auf diesem Treffen wird erstmals eine militärische Lösung erwogen.
10.5.
Gerüchte über sowjetische Truppenbewegungen in Richtung CSSR.
17.-22.5.
Sowjetische Armeedelegation vereinbart in Prag den „weiteren Ausbau der Freundschaft zwischen den Streitkräften“.
29.5.-4.6.
Auf dem Mai-Plenum des ZK der KPTsch wird der Reformkurs bestätigt. Warnung vor einem Rückfall in die Vor-Januar -Verhältnisse wie vor „anarchisierenden und antikommunistischen Tendenzen“.
20.6.
Beginn der Warschauer-Pakt-Manöver in der CSSR.
25.6.
Gesetz zur Rehabilitierung politisch Verfolgter. Die Abschaffung der Zensur wird im neuen Pressegesetz verankert.
27.6.
In der 'Literarni Listy‘ und mehreren anderen Zeitungen erscheint das Manifest „2.000 Worte“, das die schleppende Erneuerung kritisiert und Boykottmaßnahmen vorschlägt. Das Präsidium der KTSCH erklärt, eine Beschleunigung des Demokratisierungsprozesses bedeute eine „ernste Gefährdung der neuen Politik“.
30.06.
Ende der Militärmanöver - sowjetische Truppen bleiben. In der Bevölkerung wächst das Unbehagen.
11.7.
'Prawda‘ kritisiert die „heuchlerischen Phrasen antisozialistischer Kräfte“ in der CSSR. Die Entwicklung gleiche derjenigen Ungarns 1956, doch sei die „konterrevolutionäre Taktik noch raffinierter und heimtückischer geworden“.
12.7.
Die sowjetischen Manövertruppen beginnen mit dem Abzug.
14.-15.7.
Warschauer Konferenz ohne die CSSR. Tenor: Feindliche Kräfte stoßen die CSSR vom Weg des Sozialismus. Die Entwicklung wird als Drohung der Sicherheit aller sozialistischen Länder aufgefaßt.
18.7.
Dubcek weist die Anschuldigungen zurück und wirbt um Vertrauen bei der Bevölkerung. Mehrere Tausend Solidaritätsadressen aus der Bevölkerung.
26.7.
Unter dem Zeitdruck der Interventionsdrohung veröffentlicht Pavel Kohout einen Appell, der der Dubcekführung bei den bevorstehenden Verhandlungen den Rücken stärken soll. Zwei Millionen Tschechoslowaken unterschreiben den Appell.
29.7.-1.8.
Dramatische Verhandlungen der Parteiführung von KPdSU und KPTsch in Cierna. Dubcek bekennt sich zur Alternativlosigkeit des Reformkurses. Dubcek wird vorgeworfen, er betreibe die Loslösung der seit 1939 zur SU gehörenden Karpato-Urkraine. Der Delegationsteilnehmer Frantisek Kriegel wird als „galizischer Jude“ bezeichnet, mit dem man nicht verhandeln könne. Das Kommunique verzeichnet eine „Atmosphäre völliger Freizügigkeit, Offenheit und gegenseitigen Verständnisses.“ In Prag finden Massenkundgebungen statt.
3.8.
Die letzten sowjetischen Manövertruppen verlassen das Land. In Bratislava treffen sich die führenden Vertreter der Warschauer-Pakt-Staaten. Die Gefahr einer militärischen Intervention scheint abgewendet.
4.6.
Die SED zeigt sich überzeugt, daß die Gespräche in Bratislava die „Prinzipien der Gleichberechtigung, der Achtung der Souveränität, der nationalen Unabhängigkeit, der territorialen Integrität ... vertiefen“ werden.
17.8.
Kadar warnt den immer noch/wieder optimistischen Dubcek: „Wißt ihr denn wirklich nicht, mit wem ihr es zu tun habt?“
18.8.
Breschnew kündigt Washington die bevorstehende Intervention an. Die USA signalisieren Stillhalten.
18.8.
Das Präsidium der KPdSU beschließt die militärische Intervention.
20.8.
Um 22 Uhr erzwingen auf dem Prager Flughafen Rucyne drei sowjetische Transportmaschinen wegen Treibstoffmangels die Landung. Fallschirmjäger besetzen den Flughafen und organisieren die Massenlandung sowjetischer Militärmaschinen. - Um 23 Uhr 40 informiert der tschechoslowakische Verteidigungsminister das tagende Parteipräsidium vom Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen.
21.8.
Um 1 Uhr 55 sendet Radio Prag die Erklärung des Präsidiums an das tschechoslowakische Volk: Die Intervention wird als völkerrechtswidrig verurteilt. Die Bürger werden aufgefordert, keinen Widerstand zu leisten. Parlament und Regierung schließen sich der Erklärung an. - TASS veröffentlicht ein „Hilfeersuchen“ anonymer „Repräsentanten der CSSR“. - Dubcek und weitere Präsidiumsmitglieder werden verhaftet. Der Prager Rundfunk koordiniert aus dem Untergrund den zivilen Widerstand. Barrikadenkämpfe in Prag. Im Laufe der Auseinandersetzung der folgenden Tage sterben ca. 150 tschechische Bürger.
22.8.
In Vysocany tritt der außerordentliche Parteitag der KPTsch zusammen.
Die Einsetzung einer Kollaborationsregierung scheitert mangels Kollaborateuren. Einziger Verhandlungspartner der Sowjets bleibt - die internierte Dubcekführung.
Es beginnt die Zermürbung der Truppen: gewaltlose Demonstrationen, Abbau der Straßenschilder, Diskussionen, Plakate, die die Intervention mit der Naziokkupation gleichsetzen. - Der Prager Rundfunk ruft zu Blutspenden auf.
23.-26.8.
Moskauer Verhandlungen unter Beteiligung der Verhafteten. Das Not-Kalkül der Sowjets: Mit den Reformen gegen die Reform. Unter brutalem Druck auf die tschechoslowakische Delegation wird vereinbart: Ungültigkeit des Vysocaner Parteitags; Umbildung der Staatsorgane im Sinne Moskaus; Reglementierung der Medien; Herstellung von „Ruhe und Ordnung„; Geheimhaltung (!) des „Abkommens“. Moskauer „Zugeständnisse“: Keine Einmischung der Truppen in die inneren Angelegenheiten der CSSR (!); etappenweiser Rückzug; „Brüderliche Freundschaft auf ewige Zeiten“
27.8.
Rückkehr der Delegation nach Prag - ungebrochenenr Rückhalt in der Bevölkerung.
30.8.-18.9.
Moskau erzwingt die Demission unliebsamer Staats- und Regierungsvertreter.
11.9.
Dubcek und Husak bekennen sich zur „Fortsetzung der Nach -Januar-Politik“.
12.9.
Wiedereinführung der Zensur
16.10.
Die „zeitweilige Stationierung“ sowjetischer Truppen wird vertraglich geregelt.
7.11.
Antisowjetische Demonstrationen in vielen Städten.
16.1.69
Selbstverbrennung Jan Palachs in Prag als Protest gegen die „Rückzugspolitik“.
21.3.
Antisowjetische Demonstrationen anläßlich eines Eishockeysieges der CSSR über die UdSSR
31.3.
Der sowjetische Marschall Gretschko stellt Dubcek ein Ultimatum zur Herstellung von „Ruhe und Ordnung“.
11.4.
Husak kritisiert die „Schwäche der Prager Partei- und Staatsführung“
17.4.
Rücktritt von Alexander Dubcek. Gustav Husak wird neuer Erster Sekretär der KPTsch. - Die „Normalisierung“ gibt sich offen als Liquidierung aller Reformansätze des „Prager Frühlings“ zu erkennen.
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