EINE FABRIK OHNE SCHORNSTEIN

■ An den Küsten der Türkei wird gebaut und gebaut und gebaut...

Um die Mittagszeit ist es im verkarsteten Küstenland an der türkischen Ägäis unerträglich heiß. An die 30 Schafe suchen Schatten unter einem großen Ölbaum, in dem sich auch noch Dutzende von Spatzen vor der brennenden Sonne versteckt haben. Von einem mit Geröll bedeckten Hang brüllt ein Esel herüber. Etwas weiter steht ein armseliges Haus, aus Lehm und Feldsteinen erbaut. Dort wohnt der Bauer, dem die Tiere gehören. Das Land ist trocken und steinig, es wächst kaum mehr als zum Teil meterhohe Disteln.

Das leise rauschende Meer bettet sich an dieser Stelle weich in die Bucht. Mehr als 100 Meter weit leuchtet der weiße Sand vom Grund, erst beim Übergang zur offenen See färbt sich das Gewässer in kleinen Etappen erst türkis, dann herrlich azurblau, es folgt schließlich das tiefe dunkle Meeresblau. Helle Brocken aus Muschelkalk liegen vor der gemächlich ansetzenden Steilküste. Die Menschen in der Gegend haben diesem Naturzauber den Namen „Paradiesbucht“ gegeben, eine treffende Bezeichnung.

Kaum eine Seele mit Ausnahme des Schäfers verirrt sich hierher, doch die Ruhe trügt. Da, wo die Schafe grasen, ziehen sich vereinzelte Kabelgräben durch das Gefilde. Und im Windschatten eines Kalksteinberges steht ein graues Zelt. Es dient Akin, Ibrahim, Muhammas, Mustafa und Yahya als Quartier. Doch zum Campen sind sie nicht ans Meer gekommen.

Ihr Chef, der Starkstromtechniker Rasim Ataman - er hat bei Krupp in Istanbul gelernt - breitet eine große Karte aus: Haus an Haus, verbunden durch Kabel- und Abwasserkanäle. Ein großes Feriendorf ist auf dem kargen Land, von dem der Schäfer mit seiner Familie lebt, geplant. „In fünf Jahren“, so schätzt Rasim, „wird es fertig sein.“ Deshalb ist er also mit seinen Kollegen aus der Provinzstadt Denizli hierher gekommen: um Gräben zu schachten und Kabel zu ziehen. Schließlich kann man hier an der Küste auch etwas mehr verdienen als im Binnenland. 5.000 türkische Lire gibt es am Tag, ungefähr sechs deutsche Mark.

Seit einem Jahr hat sich die Szene freilich rasant verändert. Einige wenige Hotels nehmen in dieser Saison zum ersten Mal deutsche oder englische Gäste auf. Doch der Hauptschub in puncto Bettenkapazität steht noch bevor. Neben dem ersten Haus am Platz ist eine große Baukuhle durch Holzbretter gesichert. Die Herberge selbst verrät in vielen Details die Hast, mit der sie aus dem Boden gestampft wurde. Es blättert die Farbe, die Türe klemmt.

Zum Meer hin liegt der Strand, allerdings ist der Sand weder weiß noch golden, eher grau-bräunlich, so wie herangekarrter feinkörniger Belag eben aussieht. In allen anderen Himmelsrichtungen wird gebaut, was das Zeug hält. Von morgens bis abends röhren die Betonmischer, werden Moniereisen zurechtgebogen und Verschalungen genagelt. Auf der anderen Straßenseite entstehen gleich drei neue Hotels, Seitenabstand nicht einmal fünf Meter. Immer wieder rollen Laster mit Zement, Kies und roten Hohlziegeln vorbei. Kalkstaub mischt sich in den Flugsand, der hier oft durch das Land wirbelt.

Der Bürgermeister des kleinen Dorfes hat große Pläne für seine Gemeinde. 5.500 Hotel-Betten sollen in Altinkum aus dem Stand heraus entstehen. Rund 300.000 Urlauber werden jährlich erwartet. Für solche Menschenmassen wäre der Strand viel zu klein. Aber dieses Problem ist schon gelöst. „Der Strand wird doch verlängert“, erklärt eine Reisebetreuerin.

Was sich der Laie darunter vorzustellen hat, ist gleich in der Nähe eindrucksvoll dokumentiert. Auf einem Berg, nur einige hundert Meter vom Ort entfernt, befindet sich eine Großbaustelle im fortgeschrittenen Stadium. Das Strandlokal ist schon vollendet. Ein schwerer Bulldozer planiert gerade die Promenade, für etwas Blumenschmuck werden Betonkästen aufgestellt. Zum Wasser hin vermutet man am ehesten eine Kieskuhle. Fast wie in einem Amphitheater ist ein sauber gezirkeltes Halbrund in zwei Etagen zu sehen. Der Sand wirkt mit seiner rötlichen Farbe wie ein Fremdkörper. Ein solcher Ton ist in der ganzen Landschaft nicht anzutreffen. Zum Badestrand führt eine Betontreppe.

Und der Bauboom geht unvermindert weiter. Fast die gesamte Landzunge mit der noch malerischen Paradiesbucht wird mit Beton überzogen. Feriendörfer, Motels, Urlaubssiedlungen, Restaurants, eine Baustelle nach der anderen. Die Betongießer nächtigen in Zelten gleich hinter den Mischern oder in den Rohbauten, wenn schon eine Decke eingezogen ist. Hin und wieder verzieren Halbfertigruinen die Landschaft. Stahlbetonskelette ragen in den Himmel, so wie die antiken Säulen beim Tempel des Apollon.

Und das neue Touristenzentrum Altinkum ist keineswegs die Ausnahme. Hin zum landeinwärts gelegenen Tempel reihen sich Baustellen wie Perlen an einer Kette. Das ganze Land scheint vom Bazillus des Massentourismus erfaßt zu sein. An der Küste bei Assos das gleiche Bild. Von Istanbul nach Westen zieht sich 80 Kilometer lang ein Bauplatz nach dem anderen am Marmara-Meer entlang.

Für Premier Turgut Özal ist der Tourismus eine „Fabrik ohne Schornstein“, wie er kürzlich bei der Grundsteinlegung für das Fünf-Sterne-Hotel Mövenpick in Istanbul verkündete. In diesem Jahr erwartet der Regierungschef im Reisegeschäft Einnahmen in Höhe von zwei Milliarden Dollar. Schon in wenigen Jahren sollen die Touristen fünf bis sechs Milliarden Dollar im Land lassen. Seit seiner Amtsübernahme vor fast sechs Jahren hat Özal die Zahl der Urlauber-Betten von 50.000 auf mehr als 200.000 vervierfacht. Und in diesem Tempo soll es weitergehen. Die türkische Regierung versucht verzweifelt, mit den Touristen-Dollars die horrenden Auslandsschulden in den Griff zu bekommen. Aber die Lage ist prekär. Die Inflationsrate liegt über 25 Prozent. „Nicht einmal im Libanon, wo ein Guerilla-Krieg herrscht, verliert das Geld so schnell an Wert“, bemerkte der frühere Präsident der Handelskammer von Izmir, Dündar Soyer, unlängst.

Doch der wilde Bauboom alle turca stößt an den Küsten schon jetzt an seine Grenzen. Hoteliers klagen, daß ihre Betten nichh ausgelastet seien. Und viele der Feriengäste geraten ins Grübeln. Ein Berliner Ehepaar erlebte vor zwei Jahren einen schönen Urlaub in Marmaris. Nun wollten sie in Didim -Altnikum Sonne und Meer genießen. Die Frau nach einem ersten Besichtigungsrundgang: „Ich bin entsetzt.“ Andere Reisende fordern wegen des Baulärms und dem damit verbundenen „Verlust an Erholungsqualität“ Geld zurück. Lauscht man hier und da den Pauschalurlaubern, so wollen sie das nächste Mal doch lieber wieder nach Rhodos oder nach Mallorca jetten.

Viele Türken vom Lande zieht es derweil in die großen Städte. In der Zwei-Millionen-Stadt Izmir, wo sich das Meer bereits zur Kloake verwandelt hat, sagt man über die zahlreichen Neuankömmlinge: „Sie denken, Staub und Sand in der Großstadt seien aus Gold.“ Das Ergebnis sind Elendsquartiere am Stadtrand. Die Hütten werden „in einer Nacht gebaut“, weil es natürlich keine amtlichen Genehmigungen gibt.

Ob der Sand von Altnikum wirklich aus Gold ist, das wird sich vermutlich erst herausstellen, wenn sich der Goldrausch bei den Investoren ein wenig gelegt hat. Der Schäfer in der Paradiesbucht jedenfalls muß sich schon bald eine neue Hütte bauen, und Rasim und seine Freunde würden den Platz, an dem sie jetzt ungestört hin und wieder ein Schaf am Spieß braten oder nachts mit einem Netz auf Fischfang gehen, schon im nächsten Jahr nicht wiedererkennen. Und wenn das Feriensilo erst einmal steht, wer weiß, ob die Erbauer dann noch an diesem Ort erwünscht sind. Womöglich könnten sie ja im Touristen-Ghetto stören...

Paul F. Duwe