: Kriminelle Vereinigung im Kälberstall
■ Hormonskandal in der industriellen Kälbermast weitet sich aus / Weiterer Großmäster im Landkreis Borken unter schwerem Verdacht Asthmamittel mit Hormonen gepanscht als Wachstums-Dope / Warnung vor Kreislaufproblemen / Fleischesser reagieren mit Boykott
Berlin (taz/dpa) - Die Mitgliederliste der Mastmafia wird länger. Die mit dem Hormonskandal befaßte Staatsanwaltschaft Münster hat jetzt gegen einen zweiten Großmäster im Landkreis Borken ein Ermittlungsverfahren wegen krimineller Kälbermast eingeleitet. Bernhard Wigger, der neue Verdächtige, ist Nachbar des Kälbermästers Hying, der letzte Woche festgenommen wurde und sich noch immer im Justiz -Krankenhaus befindet. Wigger soll 60.000 Kälber besitzen, der Jahres-Umsatz seines Betriebes wird auf über 100 Millionen Mark geschätzt. Bereits am Freitag war der gesamte Viehbestand Wiggers beschlagnahmt worden.
Bei einer Schlachtung von 40 Tieren aus Wiggers Bestand waren am Samstag bei der Hälfte Einstichstellen gefunden worden. Der Großmäster erklärte dazu, daß die Einstiche Spuren von Grippe-Schutzimpfungen seien. Wigger steht im Verdacht, Hormon-Präparate mit dem Arzneimittel „Clenbuterol“ kombiniert zu haben. Clenbuterol wird gegen Husten und „Asthma bronchiale“ eingesetzt. Wenn es Kälbern über mehrere Monate in hohen Dosen verabreicht wird, hat es eine wachstumsfördernde Wirkung. Unter Mitarbeit der Chemiefirma Boehringer soll jetzt untersucht werden, ob die sehr schwer nachweisbare Substanz von Wigger tatsächlich verabreicht wurde.
Der Präsident des Bundesgesundheitsamtes, Großklaus, bezeichnete es als Skandal, daß ein synthetisch hergestelltes Hormon mit dem Tierarzneimittel Clenbuterol kombiniert worden sei. Man wisse aus der Humanmedizin, daß solche Mittel in hohen Dosierungen zu Herz-Kreislauf -Erkrankungen führen könnten. Zum Einsatz der der Hormone sagte er, es sei bekannt, daß „unter bestimmten Voraussetzungen die unterschiedlichsten Hormone immer wieder am Entstehen und Wachstum von Tumoren beteiligt sein können“.
Der Direktor des Max-Planck-Instituts für experimentelle Endokrinologie, Professor Peter Jungblut, warnte dagegen vor einer „Hormonfleisch-Hysterie“. Eine Gesundheitsgefahr für den Verbraucher bestehe eindeutig nicht.
Wigger wurde bisher nicht in Haft genommen, da angeblich keine Fluchtgefahr bestehe. Laut Oberstaatsanwalt Deupmann habe sich der Kälber-Millionär bei den Ermittlungen sehr kooperativ gezeigt.
NRW-Umweltminister Mathiesen rechnet mit weiteren Hormon -Sündern. Schon jetzt gebe es Verdachtsmomente gegen zwei Mäster in Wesel und Coesfeld, die ebenfalls Hormon-Cocktails gespritzt haben sollen. Die Untersuchungen „laufen auf Hochtouren“, so der Minister.
Mathiesen hat unterdessen um polizeiliche Verstärkung bei seinem Kollegen von Innen-Ressort, Schnoor, gebeten. Schon jetzt sind 540 Beamte eingesetzt, die rund um die Uhr insgesamt 68 Gehöfte mit Hormon-Kälbern bewachen müssen.
Bei den Ermittlungen im Fall Hying sollen über das Hormon -Spritzen hinaus weitere schwere Verstöße aufgedeckt worden sein. Danach sollen auch sogenannte Fortsetzung Seite 2
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„Verrecker“ - das sind Kälber, die während der Mast krepiert sind - im hauseigenen Schlachthof verwurstet worden sein. Selbst Kälber in Leichenstarre sollen, wie der 'Spiegel‘ berichtet, noch verwendet worden sein. Über Hyings Praktiken habe jeder in Südlohn Bescheid gewußt. Hying selbst schweigt nach wie vor. Sein Gehöft wird von Journalisten belagert, die Familie hat die Rollos heruntergelassen und reagiert weder auf Klingel noch auf Telefon.
Unterdessen ist der Verbleib von 500 verschwundenen Tieren aus dem Bestand von Hying noch immer nicht aufgeklärt. Es gibt aber nach Angaben der Staatsanwaltschaft Hinweise, daß die Tiere bereits geschlachtet, verarbeitet und in den Handel gelangt sind. Vielleicht sind sie längst verspeist.
Der Arbeitskreis wissenschaftlicher Tierschutz in Hattingen hat Umweltminister Mathiesen ultimativ aufgefordert, das Töten der Kälber zu stoppen. Beim Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wurde eine einstweilige Verfügung gegen die Tierbeseitigungsanstalt in Marl beantragt, um „weitere Massentötungen zu verhindern“. Bisher wurden 4.000 Kälber aus dem Bestand von Hying geschlachtet. Noch ist offen, ob der gesamte Bestand und auch die Kälber von Wigger alle geschlachtet und zu Hunde- und Katzenfutter verarbeitet werden.
Die Grünen in Bonn forderten als Konsequenz aus dem Hormonskandal ein Verbot industrieller Massentierproduktion und statt dessen eine artgerechte bäuerliche Tierhaltung. Solange die Massentierproduktion existiere, werde es auch die „kriminellen Machenschaften der Hormon-Mafia“ geben. Die nordrhein-westfälische Landesregierung will als Konsequenz aus dem Hormonskandal mit einer Gesetzesinitiative gegen die Massentierhaltung vorgehen.
Der Hormonskandal zeigt unterdessen erste Auswirkungen auf den Markt. Der Deutsche Fleischer-Verband registrierte am Freitag auch bei anderen Fleischsorten bereits eine deutliche Kaufzurückhaltung. Der Hauptgeschäftsführer des Verbandes, Theo Werfhoven, sagte in Frankfurt beim Kalbfleisch erwarte er für die nächsten Monate Umsatzeinbußen. von bis zu zehn Prozent. Die Zurückhaltung der Käufer sei vor allem in Nordrhein-Westfalen sehr stark, dagegen schlage sie in ländlichen Gebieten Bayerns fast gar nicht zu Buche.
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