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Abgrenzung - die Mauer in den Köpfen

■ „Absage an Prinzip und Praxis der Abgrenzung“ - ein Schlagwort sorgt für die Diskussion über Reiseverbote, Westkontaktverbote und die Folgen für die DDR-Gesellschaft / Die Kluft zwischen Staat und Bevölkerung überwinden und damit die Mauer überflüssig machen

Was verhindert werden soll, sorgt erst recht für Zündstoff. Unter dem Schlagwort „Absage an Praxis und Prinzip der Abgrenzung“ werden in informellen Diskussionszirkeln und Kirchenkreisen bis dato verdrängte Probleme der DDR-Gesellschaft thematisiert und offen beim Namen genannt.

Nach den Ereignissen am 17.Januar, nach der Zunahme von Ausreiseantragstellern ist die Diskussion um die Abschottung der Bevölkerung mit der Mauer als deutlichstem Symbol dieser Politik virulenter denn je. Für den Stein des Anstoßes sorgte im letzten Jahr die Ost-Berliner Bartholomäus -Gemeinde und brachte auf der Berlin-Brandenburgischen Synodaltagung einen Antrag ein: Die Abgrenzung sollte aufgehoben, die volle rechtlich garantierte Reisefreiheit für alle DDR-Bürger wiederhergestellt, verordnete Westkontaktverbote abgeschafft und schließlich die längst überfällige Diskussion über die Folgen der Abgrenzung begonnen werden. Der Antrag wurde abgeschmettert. Er war den Synodalen politisch zu brisant, zumal der Staat mit massivem Druck reagierte. Der folgende, gekürzte Beitrag ist der Ost -Berliner Broschüre „Aufrisse“ entnommen. Mit mehr als 1.000 Exemplaren kursiert es derzeit in der ganzen DDR und wird mit großer Aufmerksamkeit diskutiert.d. Red

...Mit dem Antrag wird die Hand in die Wunde der Abgrenzung und Selbstisolation unseres Staates gelegt, der glaubt, seine Bürger hinter einer Mauer zurückhalten und ihnen die elemantaren und geistigen Kontakte zu anderen Ländern verbieten oder erschweren zu müssen. Die Folge der Isolation ist die Störung der Weiterentwicklung einer ganzen Gesellschaft. (...) Unser Leben ist in der Einengung eintönig privatisiert, dumpf und provinziell geworden, ganz im Gegenteil zur scheinhaften Demonstration millionenfacher Mitwirkung im öffentlichen Leben.

Eigentlich wissen wir schon seit Jahren, daß uns die Abgrenzung kaputt macht. Wissenschaftlich und technisch zurückgeblieben, in den Fähigkeiten zu demokratischer Mitwirkung verkümmert und mit kleinbürgerlich verengtem ästhetisch-kulturellen Horizont haben wir unser Selbstgefühl klein und unmündig gelassen. Aber wir haben uns lange in einer eigenartigen Verleugnung der Wirklichkeit damit abgefunden. Wir fanden das alles normal. Wir ließen uns die Westkontakte verbieten und unterschrieben gehorsam den Vezicht. Wir stellten keine Reiseanträge und forderten nichts mehr ein. Wir nahmen Reiseerleichterungen als großzügige Geschenke dankbar hin; und niemand hat gegen die Beleidigung protestiert, daß man erst als Rentner reisen durfte. Wir ließen uns die nachträgliche Rechtfertigung des 13.August gefallen, als sei ein „antifaschistischer Schutzwall“ vielleicht doch berechtigt und als könne man damit das Reiseverbot und den Schießbefehl gegen flüchtende DDR-Bürger rechtfertigen. Niemand hat öffentlich gesagt, daß es nur einen wesentlichen Grund für Reiseverbot und Schießbefehl gegeben hat, nämlich den, die Bürger daran zu hindern, die DDR zu verlassen, die Furcht vor einer Massenflucht. Die Anpassung war und ist erstaunlich. Sicherlich haben wir im privaten Kontakt geklagt, genörgelt und gewitzelt, aber die Fesselung dann doch akzeptiert.

Wir gingen in dieser Verleugnung schließlich soweit, daß wir die staatliche Ideologie der Rechtfertigung übernahmen und sogar in die Christlichkeit transformierten, nämlich, daß der Wunsch, die DDR zu verlassen, unmoralisch sei; wir gingen so weit, moralisierend zu sagen, daß ein Christ nicht ausreisen dürfe; ein Christ müsse auf dem Platz bleiben, auf den Gott ihn gestellt habe. Ausreiseantragsteller wurden kirchlich zwar caritativ unterstützt, als Heizer eingestellt usw., aber doch moralisch diskriminiert. (...) Nicht die Hiergebliebenen hatten das Problem, die „Krankheit“, das „Isolationssyndrom“, sondern den Ausreisern wurde das Versagen, die „Krankheit“ zugesprochen; sie würden mit ihren Problemen nicht fertig, die sie ja ohnehin mit nach dem Westen nehmen würden; sie ließen sich durch das Wohlleben verführen. Letzten Endes erschien der Ausreiser aus unserer verleugneten Sicht wie ein Psychopath. Und das ist das Schreckliche, daß die Ausreiser schließlich tatsächlich in eine Außenseiterrolle abgedrängt werden, in eine eigenartige Politszene, in der sie wirklich unbeirrbar anders denken als die Bleibenden und ihre abgelöste soziale Entwicklung nehmen. (...)

Die Mauer, das sichtbare Symbol der Abgrenzung, hat nicht nur die Bedeutung der Grenzziehung nach außen, der Isolierung unserer Gesellschaft von anderen Ländern und Völkern, sondern dahinter zeigt sich als wesentliche Ursache für die äußere eine innere Abgrenzung. Immer, wennn wir unsere Verleugnung und alle gesellschaftlich harmonisierende Schönfärbung einmal durchstoßen, sehen wir diese Grenze zwischen Bevölkerung und Staat, die von einem tiefen gegenseitigen Mißtrauen bestimmt ist.

Es ist klar, die Mauer wurde „von oben“ aufgezwungen, ein Willensprozeß in der Bevölkerung für Abgrenzung hat nie stattgefunden. Man stelle sich eine Volksabstimmung dazu vor. Die Mauer wurde uns oktroyiert. Ihr Hauptsinn ist, die Flucht der Bürger zu verhindern; ein anderer, die Beziehungen der Bürger, die sie nach „draußen“ haben, zu kontrollieren, denn die Leute bringen von den Reisen in ihren Köpfen Sprengstoff mit, die Anschauung anderer Lebensformen, die Ferne und die Weite, den großen freien Spielraum, als eigentliche Herausforderung für unsere enge gesellschaftliche Lebensweise.

Wenn ich nach den Gründen für das Ausweichen der Bürger aus unserem gesellschaftlichen Zusammenleben frage, stoße ich auf die Identitätsdiffusion des Staatsbürgers, der sich in wesentlichen Entwicklungen mit den Vertretern des Staates und der Staatspartei nicht mehr in Übereinstimmung befindet.

(... )Die entscheidende Abgrenzung ist die zwichen Bevölkerung und Staatsvertretern in unserem eigenen Land. Das umgreifende Thema heißt also: Überwindung der Abgrenzung zwischen Staat und Bevölkerung.

Wenn das gelungen wäre - kann man es sich vorstellen? -, wäre eine Mauer überflüssig, würde eine gewöhnliche, gut -nachbarliche Grenze zwischen anderen Ländern möglich sein. Wenn die Grenze zwischen Volk und Staat durchlässiger und durchsichtiger wird, braucht der Staat den Einfluß anderer Gesellschaften auf die Bürger nicht mehr zu fürchten.

Ludwig Drees / Ost-Berlin

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