: „Karneval bedeutet ihnen sehr viel“
■ I N T E R V I E W
Ihr gemeinsamer Dokumentarfilm „Ist es leicht, jung zu sein“ erregte bisher die Gemüter von 20 Millionen SowjetzuschauerInnen: Regisseur Juris Podnieks und Jugendsoziologe Abrams Klezkins. Mit beiden sprach taz -Mitarbeiterin Barbara Kerneck, deren einstündiges Rundfunkfeature im SFB (Redaktion: Wolfgang Bauernfeind) ausführlich über „Jugend unter Glasnost und Perestroika“ informiert und Anfang nächsten Jahres zu hören sein wird.
Barbara Kerneck: Mich verblüfft an den jungen Leuten in der Sowjetunion eine tolle Mischung von Ideologien. Da erklärt zum Beispiel ein Junge, er sei Mitglied der antistalinistischen Bewegung „Helsinki '86“, andererseits entpuppt er sich als Anhänger der neofaschistischen Organisation „Pamjat“, und schließlich meint er, „eigentlich“ sei er ja Pazifist und gegen paramilitärische Ausbildung in den Pionierorganisationen und in Schulen.
Juris Podnieks: Ich kenne diesen Effekt sehr gut. Gerade das ist es ja, was uns von den jungen Leuten unterscheidet und uns im Umgang mit ihnen Schwierigkeiten bereitet: uns hat sich schon ein festes Raster eingeprägt.
Wird aus einem solchen Menschen ein kämpferischer Pazifist, oder ein Verteidiger irgendwelcher kultureller Werte, ein Kämpfer für die Menschenrechte oder etwas Viertes oder Fünftes, für das wir heute noch gar keine Bezeichnug haben? Wenn wir diese Leute bisher in unsere Filme gepreßt haben, dann haben wir dort ein oder zwei Seiten von ihnen gezeigt, aber nicht fünf oder sieben, wie es eigentlich sein müßte. Und deshalb sind sie für uns Halb- oder Drittelmenschen geblieben - jedenfalls nicht vollwertig.
Die junge Generation tritt nicht sehr geschlossen auf. Liegt es vielleicht auch an einer politischen Sprache, die so abgenutzt und diskreditiert ist, daß keine Worte mehr übrigbleiben, mit denen man Forderungen und Wünsche gemeinsam ausdrücken könnte?
Ich war 1968 erst 17 bis 18 Jahre alt und habe aus der Ferne mitbekommen, was in Paris oder Kalifornien los war. „Make Love, not War“ bezeichnete die Hoffnung, daß alles besser werden könnte, wenn man selbst nichts Schlechtes tut. Heute kann es nicht mehr zu einer solchen Konsolidierung kommen, weil auch diese Theorien ihre Unmöglichkeit bewiesen haben.
Ich bin kein Orakel, aber ich bin sicher: der ganzen Menschheit stellt sich heute das Problem eines neuen Glaubens, nicht eines Kirchenglaubens, sondern einer Theorie des Überlebens. Wenn wir diese Antwort nicht finden, bringen wir die Welt wirklich auf den Nullpunkt. Dabei spielt nicht nur der Umstand eine Rolle, daß jederzeit jemand auf ein Knöpfchen drücken kann, um die Welt auszulöschen. Es genügen schon diese ganzen Beziehungen, die wir um uns herum aufgebaut haben, die so unmenschlich und unecht sind.
Abrams Klezkins: Die alten Parolen haben wirklich ihren Sinn verloren. Aber die Situation der Jugend ist nicht nur dadurch bedingt, daß es für sie keine neue Sprache gibt - es gibt für sie keine neuen Ideen. Das klingt vielleicht seltsam, aber es ist so. Ich kann leider nicht sagen, daß eine große Mehrheit oder auch nur eine große Minderheit unserer heutigen Jugend die Perestroika als ihre eigene praktische Angelegenheit betrachtet. Und dabei verfügt doch die Perestroika über eine neue Qualität des Denkens, genau über das, was unserer Gesellschaft und, wie ich glaube, der Menschheit insgesamt, nottut. Aber an keinem Punkt konnte die Jugend bisher sagen: „Das und das halten wir für richtig und deshalb werden wir so und so handeln!“
Als unsere Kinder haben wir sie ja sehr gern, aber wir betrachten sie nicht als Genossen oder Kollegen, mit denen wir die zentralen Aufgaben gemeinsam lösen! Dabei werden die Kinder, die heute zur Schule kommen, im Jahre 2040 pensioniert. Wahrscheinlich haben weder Sie noch ich den Mut zu prognostizieren, was dann auf der Erde los sein wird. Jedenfalls wird diese Generation noch nie dagewesene Situationen mit uns bis heute völlig unbekannten Mitteln lösen müssen. In der Zwischenzeit planen wir für sie, aber ohne sie.
Woher sollen sie da ihren Enthusiasmus nehmen? Wer hat denn schon Lust, an einem Haus mitzuarbeiten, wo er weder dem Architekten, noch dem Baumeister hineinreden darf, sondern nur die Ziegelsteine schleppen?
Die Jugendlichen in Ihrem Film stecken voller schöpferischer Energie. Sind sie denn nun für die sowjetische Jugend typisch?
Wenn man unsere Gesellschaft betrachtet, dann kann man sagen, daß die Aufrührer der sechziger Jahre und die Aufrührer der achtziger Jahre im wesentlichen dieselben Leute sind. Was natürlich alles andere als normal ist! Sie hätten sich allmählich beruhigen und der Jugend den Aufstand überlassen sollen. Daß es nicht so gekommen ist, ist eben unsere Schuld, die Schuld der Generation der sechziger Jahre.
Wir haben nach dem 20.Parteitag 1956 eine sehr schöpferische Epoche erlebt und begannen unser Leben damals wirklich in dem Glauben, daß man die Welt „umstülpen“ könne. Aber im Laufe der Jahre zeigte es sich, daß wir gar nichts umgestürzt, sondern im Gegenteil mehr verspielt als gewonnen hatten. Wir suchten den Sinn des Lebens nur noch in den allerpersönlichsten Angelegenheiten. Die neue Generation hat uns als Versager erlebt, jedenfalls als Leute, die viel Versprechen und wenig tun. Und daraus hat sie den Schluß gezogen, daß unser Weg nicht immer der richtige war.
Heute sind viele von vornherein bereit, sich den offiziellen Strukturen anzupassen. Und wenn sie das machen, tun sie es sehr gut, denn sie sind besser ausgebildet und flexibler als wir.
Andere huldigen dem Eskapismus. Meist ist jedoch der Beitritt zu informellen Gruppierungen oder zu jungen Theatergruppen nur eine Flucht. Die meisten wollen dort nur ihrer Einsamkeit entgehen und zielen mit ihren Aktivitäten nicht in die Gesellschaft. Überhaupt kann man heute bei der Jugend von einer gewissen „Theatralisierung“ des Lebens sprechen. Der „Karneval“ bedeutet ihnen sehr viel. Aber auch das ist ein Weg ins Abseits, wie die Karriere. Auf beiden Wegen verlieren sie die einzige ihnen gegebene Lebenszeit. In Lettland hat es in den vergangenen Jahren eine große erfolgreiche Initiative gegeben gegen ein geplantes Kraftwerk am Fluß Daugava, das unsere Natur und Kultur bedrohte. Daran haben sich Tausende von Jugendlichen beteiligt - und viele führend. Das meine ich. Wenn man die Jugend nur ließe, dann könnte sie sich auch einer ernsthaften Sache so widmen, daß Altersschranken fallen.
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