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§ 218 vor Gericht

■ 147 Frauen wurden in Memmingen bereits wegen „illegaler“ Abtreibungen verurteilt / Auch Ehemänner als „Gehilfen“ angeklagt / Im September beginnt Prozeß gegen Gynäkologen

An einem stillen Sonntagnachmittag fuhr zur Kaffeezeit vor dem Haus in einem kleinen Allgäuer Dorf ein Streifenwagen vor. Ein Polizist klingelte und stellte eine 37jährige Frau, Mutter von drei Kindern, zur Rede: Sie hatte, verzweifelt über eine ungewollte Schwangerschaft, bei einem Frauenarzt in Memmingen abtreiben lassen. Auftakt für eines der Ermittlungsverfahren im Allgäu, die sich zur größten Strafverfolgung in der Geschichte des vor zwölf Jahren geänderten Abtreibungsparagraphen 218 summiert haben: In der kleinen katholischen Stadt Memmingen wurden nach Angaben der Staatsanwaltschaft bislang 147 Frauen wegen illegaler Abtreibung zu Geldstrafen zwischen 900 und 3.000 Mark verurteilt. Die Richter sprachen ihnen, selbst wenn der Eingriff schon Jahre zurücklag, im nachhinein die soziale Notlage ab.

Doch mit den Verurteilungen, die in Bayern als „Memminger Hexenjagd“ zum Begriff geworden sind, ist der juristische Kreuzweg für die Frauen noch nicht abgeschlossen: Ehemänner und Freunde, die ihren Partnerinnen in der Notsituation beigestanden haben, müssen sich wegen Beihilfe zum Abbruch einer Schwangerschaft verantworten. Viele Frauen hatten vor Gericht arglos darüber berichtet, wie sie ihre Probleme mit dem Partner erörtert hatten. Oberstaatsanwalt Hans Christian Fürle spricht von „Gehilfen“ oder „Anstiftern“. Acht entsprechende Urteile sind bislang ergangen.

Androhung von Beugehaft

Voraussichtlich vom 8.September an sollen mehr als 100 Frauen schließlich öffentlich im Prozeß gegen den Gynäkologen Horst Theissen wegen illegaler Abtreibung in 156 Fällen aussagen - Androhungen von Beugehaft sind bereits ergangen. „Beugehaft - das ist keine Strafe, sondern eine Erziehungsmaßnahme“, betonte Fürle.

Der Frauenarzt Horst Theissen war im Allgäu für Frauen in Not oftmals die einzige Anlaufstation: Er hatte auch nach 1980, jenem Jahr, in dem die bayerische Landesregierung ambulante Abtreibungen in Arztpraxen verbot, diese weiter vorgenommen. Er empfand es nach eigenen Angaben als „medizinisch unverantwortlich“, wenn Frauen in dieser seelischen Notsituation zu einem stationären Aufenthalt eine entfernte Klinik aufsuchen mußten. Dabei hatte der Arzt, Verfechter der Naturheilkunde und der natürlichen Geburt, in einigen Fällen die formaljuristischen Auflagen nicht eingehalten: er verzichtete bei einigen Patientinnen auf den Nachweis, daß sie sich einer Beratung unterzogen hatten. Von einem anderen Arzt hätten sie sich dann eine Notlagenindikation bestätigen lassen müssen. Doch Theissen wußte um die Angst vieler Frauen vor dem „Instanzenweg“, den der Paragraph 218 vorschreibt.

Theissen habe selbst lange Gespräche mit den betroffenen Patientinnen geführt, berichtet die Augsburger Rechtsanwältin Brigitte Hörster, die eine Reihe der Frauen vor Gericht vertreten hat. Er habe abzuschätzen versucht, ob die Fortsetzung der Schwangerschaft zumutbar sei, habe so manche Frau überzeugt, das Kind auszutragen. Geschäfte machte er mit den Frauen nicht, 200 bis 400 Mark verlangte der Frauenarzt für den Eingriff - Gespräche, Ultraschall und Nachsorge-Untersuchungen inbegriffen. Finanziell schwache Frauen behandelte er auch schon mal kostenlos. Dem Finanzamt meldete Theissen diese Einkünfte nicht.

Durch einen anonymen Hinweis flog die Geschichte 1986 schließlich auf: Die Staatsanwaltschaft Memmingen beschlagnahmte die Patientenkartei, der Arzt mußte für sechs Wochen in Untersuchungshaft und kam nur durch eine Kaution in Höhe von 300.000 Mark wieder frei.

Mit der Beschlagnahme der Datenkartei kam eine unvergleichliche Großfahndung nach Theissens Patientinnen ins Rollen: Sofern die Frauen bei der Abtreibung in einer Notlage handelten, waren ihnen zwar die Formfehler nicht anzulasten. Doch genau diese Notlage sprach die Memminger Staatsanwaltschaft den Frauen im nachhinein ab: „Es gab einfach nicht die extreme, soziale Notlage, die vom Gesetz her vorgegeben ist“, sagt Oberstaatsanwalt Fürle. „Die Richter haben sich die jeweilige Situation schildern lassen. Natürlich ist eine Beurteilung der Not nicht einfach. Aber das sind ja keine Bagatellangelegenheiten. Das muß verfolgt werden.“

Insgesamt leitete die Anklagebehörde 279 Ermittlungsverfahren gegen Frauen und 83 gegen Ehemänner, Freunde oder Bekannte ein. Die Amtsrichter stützten sich vor allem auf ein Argument: Sie fanden es in fast allen Fällen zumutbar für die Frauen, das Kind auszutragen und es dann zur Adoption freizugeben.

Der Druck wurde schließlich sogar noch verschärft: Frauen aus Nicht-EG-Ländern erhielten vom Memminger Ausländeramt ein Schreiben mit den Hinweis, daß die Verurteilung wegen Abtreibung einen Ausweisungsgrund darstelle. Die Stadt wolle jedoch davon noch einmal absehen und die Frauen nur „ausländerrechtlich verwarnen“.

Chancen für Berufung?

Kaum eine der Frauen legte Berufung gegen die Urteile ein. „Viele Frauen haben es nicht einmal auf eine Verhandlung ankommen lassen, weil sie sich geschämt haben“, berichtet Fürle. Rechtsanwältin Hörster erkennt einen „ganz massiven moralischen Druck“: Aus Furcht vor ihrer Umgebung, der Öffentlichkeit und auch vor den Kosten hätten die meisten Frauen auf Rechtsmittel verzichtet.

Dabei sieht die Juristin gute Chancen auf Erfolg: „Laut Gesetz muß die Indikation von einem Arzt festgestellt werden und nicht von einem Richter. Und wenn ein Arzt bestätigt hat, daß eine soziale Indikation vorliegt, kann ein Richter nicht sagen: Das interessiert mich nicht.“ Ihrer Einschätzung nach zielen die Memminger Prozesse auf grundsätzliche Fragen ab: „Wenn man nach Jahren eine ärztliche Indikation vor Gericht überprüfen kann, wird über kurz oder lang kein Arzt mehr eine Indikation ausstellen. Und das ist wohl auch beabsichtigt.“

Vergleichbare Ermittlungen wurden schon aus anderen Bundesländern bekannt, beispielsweise aus Rheinland-Pfalz, wo die Staatsanwaltschaft gegen 179 Frauen wegen verbotener Abtreibung ermittelte. Sämtliche Verfahren wurden aber wegen „geringer Schuld“ eingestellt. Oberstaatsanwalt Fürle kann da nur mit dem Kopf schütteln: „Man kann das Gesetz nicht einfach negieren. Das wird offenbar in anderen Bundesländern anders beurteilt. Aber hier handelt es sich um unsere ureigenste Entscheidung.“

Uta Winkhaus/ap

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