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Hör-Funken: "Oststraße oder wie ein Gedicht entsteht"

(„Oststraße oder wie ein Gedicht entsteht“, Hörspiel, Deutschlandfunk, 1505 - 1600) Daß der Dichtung heutzutage mannigfache Schwierigkeiten entgegenstehen wie etwa das Desinteresse des Publikums, die Drauflausdichter -Mentalitäten sowie der Umstand, daß ein Sonett gegen die Dauerserienwelt der Medien nicht aufkommen kann, war schon bekannt; daß der Straßenlärm ein nicht minder gefährliches Widernis für Poeten ist, enthüllt Felix Florian Weyhs Hörspiel, das einen Nachwuchsdichter so sehr unter vorüberheulenden Motoren leiden läßt, daß er unter der Parole „Ruhe und Frieden der Dichterstube“ Öffentlichkeit und Politiker zu alarmieren versucht. Offenbar kommt aus den bekannten Gründen keine schlagkräftige Bürgerinitiative zur Dichterrettung zustande und sind auch sonst die Folgen nicht wie gewünscht. Dem Poeten jedenfalls bleibt schließlich nur übrig, mit einem Gedicht der Öffentlichkeit eine Lektion zu erteilen: Was erstens zeigt, daß Gedichte gerade dann entstehen, wenn das Jaulen & Heulen auf den Straßen scheinbar keine mehr zuläßt; und zweitens, daß notfalls ein Gedicht über seine eigene Unmöglichkeit möglich ist.

(„Das Menschenmuseum“, Hörspiel, SFB 3, 2300 - 2400) „Im März 1916, kurz vor Ende des Ersten Weltkrieges, wird der Soldat Guillaume Apollinaire von einer Granate am Kopf verletzt. Während der sich anschließenden Schädeloperation kann er sich mit Hilfe eines hochgeklappten Spiegels in den geöffneten Kopf hineinsehen: Er schaut seinem eigenen Gedächtnis zu. Unter dem Messer der Ärzte schälen sich die Umrisse einer unterirdischen Ordnung heraus, Plan und Aufbau einer uns fernstehenden Menschheit. Ein Gedächtnis blickt zurück. Was sich in ihm an Eindrücken und Beobachtungen abgelagert hat, versucht der zwischen Leben und Tod schwebende Patient noch einmal sich zu vergegenwärtigen. Im Zimmertheater von Apollinaires Gehirn, dessen Einrichtung an das Pariser „Musee de l'homme“ erinnert, treten sehr unterschiedliche Figuren auf - unter anderen Descartes, Zarah Leander und Anna O., die Freud-Patientin. Sie alle sind damit beschäftigt, sich selbst in Szene zu setzen, ihre automatisierten Spiele vorzuführen. In Gisela von Wysockis Hörspielerei wird Apollinaires Schädel wahrlich zum Totenschädel der Geschichte.

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