: Die Spuren von 8 Jahren Untergrund
Auf die Streiks im Mai war Solidarnosc nicht vorbereitet, die Regierung dagegen recht gut. Der Mai, so erklärte Walesa jetzt, habe der allgemeinen Frustration nur ein unzureichendes Ventil verschafft - der große Ausbruch geschehe jetzt. Und diesmal hat sich die Gewerkschaft besser vorbereitet, das zeigt auch der Ablauf der Ereignisse: Die Aufrufe zu Solidaritätsstreiks werden befolgt, überall steht die Forderung nach Legalisierung von Solidarnosc im Vordergrund und nicht wie noch im Mai Lohnerhöhungen. „Wir gehen jetzt raus“, hatte Walesa im Mai das Streikende auf der Danziger Werft angekündigt, „aber wir kommen wieder.“
Solidarnosc ist längst nicht mehr die gleiche Gewerkschaft, die vor fast genau acht Jahren die Vereinbarungen von Danzig unterschrieb. Sieben Jahre Kriegsrecht haben die Gewerkschaft gespalten, geschwächt, zugleich aber die Opposition auch verbreitert. Schon 1982 gab es die erste Abspaltung: Kornel Morawiecki gründete die „Kämpfende Solidarität“, die sich von Solidarnosc vor allem durch radikalere Worte unterschied. Im Gegensatz zur „Vorläufigen Koordinierungskommission“, dem höchsten Organ der Untergrundgewerkschaft, lehnte Morawiecki Kompromisse mit der Regierung kategorisch ab. Alles, was die Bewegung erreichen könne, müsse sie der Regierung aufzwingen. Die besonders in Schlesien recht zahlreichen Anhänger der neuen Gruppierung rekrutierten sich vor allem aus jener Gruppe, die auf dem Gewerkschaftskongreß 1981 den „Aufruf an die Arbeiter Osteuropas“ durchgesetzt hatte. Die Kollegen in den Nachbarländern sollten ihrerseits mit der Bildung freier Gewerkschaften beginnen. In der Folge begann die „Kämpfende Solidarität“ dann auch, Kontakte mit Dissidenten- und Bürgerrechtsbewegungen in den Nachbarländern aufzunehmen. Die Regierung nahm die neue Gruppe durchaus ernst, Regierungssprecher Urban machte die angeblich „terroristischen Aktivitäten“ von Morawieckis Anhängern beinahe regelmäßig zu einem Thema seiner internationalen Pressekonferenzen.
Nicht nur Abspaltungen machten damals Solidarnosc zu schaffen, vor allem auch die Resignation ihrer Mitglieder. Die Zahl der Aktiven schrumpfte, immer häufiger mußte die Gewerkschaftsführung von Streik- und Demonstrationsaufrufen Abstand nehmen, um keine Schlappe zu erleiden. Das habe, so der Historiker Adam Michnik später, aber auch sein Gutes gehabt. Denn jene, die der Gewerkschaft 1981 aus Opportunität beigetreten waren, blieben nun zu Hause. Übrig blieben jene, auf die man sich verlassen konnte. Auch hielten sich die Flügelkämpfe in Grenzen: Die Tatsache, daß viele führende Oppositionelle in Haft saßen, sorgte für Zusammenhalt.
Inzwischen hatte sich auch Morawiecki, der bis 1987 im Untergrund aushielt, bereit erklärt, mit der „Vorläufigen Koordinierungskommission“ von Solidarnosc zusammenzuarbeiten. Als jedoch 1986 nahezu alle politischen Gefangenen freikamen, ging der Streit erneut los. Um den neu gewonnenen Spielraum auszunutzen, gründete mit Zustimmung Walesas eine Gruppe ehemaliger KOR-Mitglieder den „Vorläufigen Solidarnosc-Rat“. Sowohl die gemäßigte Bewegung „Junges Polen“ als auch die Radikalen Morawieckis und der „Konföderation Unabhängiges Polen“ betrachteten das als Versuch, die Gewerkschaft in den Dienst der „Warschauer Linken“ zu stellen. Gemeint waren damit die ehemaligen KOR -Mitglieder um Kuron und Michnik. Wenige Monate später sah sich Walesa gezwungen, die „Koordinierungskommission“ und den „Vorläufigen Rat“ aufzulösen und in einem Gremium zu vereinen.
Obwohl der Streit nach der Amnestie besonders in Schlesien zu Übertritten in die „Kämpfende Solidarität“ führte, scheint er den Zusammenhalt in den Betrieben nicht gefährdet zu haben. Während sich die Intellektuellen weiter zerstritten, begannen viele Belegschaften, sich das polnische Vereinsrecht zunutze zu machen. Überall schossen sogenannte „Registrierungskomitees für freie Gewerkschaften“ aus dem Boden. Die Gerichte lehnten die Anträge auf Wiedergründung der Gewerkschaft zwar regelmäßig ab, doch bis dahin konnten die Komitees legal arbeiten.
Als dann im Mai dieses Jahres die erste Streikwelle ausbrach, verwandelten sich viele der Komitees einfach in Streikleitungen. Der Mai zeigte, daß der Mythos der verbotenen Gewerkschaft unter den Arbeitern nach wie vor lebendig ist. Und er zeigte, daß die Zersplitterung der Gewerkschaft nicht unbedingt eine Schwachstelle war: Im Ernstfall hatte man sich wieder zusammengerauft.
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