Atomdesaster in Argentinien spitzt sich zu

Siemens-Reaktor Atucha I steht schon wieder still / Gründe für „Betriebsstörungen“ noch unbekannt / Akuter Strommangel zwingt zum Weiterbetrieb des ebenfalls schwer angeschlagenen kanadisch-italienischen AKWs bei Embalse / Überholungsarbeiten vor schwerem Störfall in Atucha I wurden von Siemens-Ingenieur „gesamtkoordiniert“  ■  Von Gerd Rosenkranz

Berlin(taz) - Der Nutzung der Atomenergie in Argentinien droht der Zusammenbruch. Der seit 1974 betriebene Schwerwasser-Reaktor Atucha I liefert nach schweren Störfällen statt Strom Schlagzeilen für die argentinische Presse. Die Inbetriebnahme des erst zu 40 Prozent fertiggestellten Schwesterkraftwerks Atucha II steht in den Sternen. Und dies trotz einer geplanten und zunächst auf 400 Mio. DM bezifferten Finanzspritze aus der Bundesrepublik. Hersteller beider Atommeiler sind die Reaktorbauer von Siemens/KWU in Erlangen. Schließlich wird der unter der Federführung eines kanadisch-italienischen Konsortiums errichtete, dritte Schwerwasserreaktor Rio Tercero bei Embalse (Provinz Cordoba) trotz schwerster Mängel weiterbetrieben. Der gleichzeitige Stillstand der Blöcke Rio Tercero und Atucha I im gegenwärtigen argentinischen „Winter“ würde zur Überlastung des nationalen Stromnetzes führen.

Nach einer mehrmonatigen Wartungs- und Revisionsphase kam es im AKW Atucha I zunächst beim Wiederanfahren der Anlage am 22.Dezember 1987 zu einem folgenschweren Störfall, in dessen Verlauf etwa 50 Tonnen des zur Neutronenmoderierung und Kühlung verwendeten „Schweren Wassers“ in den Reaktorraum liefen. Die Anlage blieb erneut monatelang abgeschaltet, bis das Schwere Wasser aufgearbeitet war und in den Reaktor zurückgeführt werden konnte. Seit dem 12.August steht der Atommeiler schon wieder still. Wolfgang Breyer, Pressesprecher der Erbauerfirma Siemens/KWU, gesteht freimütig, daß nach der Ursache für die erneuten „Betriebsstörungen“ noch geforscht wird. Vermutlich habe sich einer der Kühlkanäle verformt.

Dagegen berichtete die argentinische Abendzeitung 'El Heraldo‘ unter Berufung auf Recherchen des Atomphysikers Federico Westerkamp über Risse im Reaktorbehälter, die schon 1987 entdeckt worden seien. Diese Darstellung wurde inzwischen von der staatlichen argentinischen Atomenergiekommission CNEA, die den Reaktor betreibt, als „absolut unwahr“ zurückgewiesen. Die CNEA spricht von „Problemen am Schacht eines Brennstabes“. Michael Sailer, Reaktorexperte am Öko-Institut in Darmstadt, stuft jede wesentliche Geometrieänderung im Kernbereich des Reaktors als gefährlich ein. Die Geometrie entscheide darüber, ob der Reaktor „friedlich bleibt“.

Der gegenwärtig trotz schwerer Mängel am Netz gehaltene Schwerwasserreaktor von Embalse mußte nach argentinischen Zeitungsberichten seit seiner Inbetriebnahme im Jahr 1983 bereits mindestens zehnmal ungeplant abgeschaltet werden. Dabei sei es unter anderem zu einer unkontrollierten Freisetzung von Radioaktivität in einen angrenzenden See gekommen.

Nach Angaben des CNEA-Sekretärs Normando Arcienaga würde die Reparatur des Kraftwerks eine Summe von mehreren hundert Millionen Dollar verschlingen und mindestens zwei, wenn nicht drei Jahre in Anspruch nehmen. Ursache für den offenbar von Anfang an schlampig ausgeführten Bau des angeblich modernsten Reaktors des Landes ist für argentinische Kritiker nicht zuletzt die große Eile, mit der das AKW unter der Militärjunta errichtet worden war.

Die Störfallserie im Atomkraftwerk Atucha I wird auch den Deutschen Bundestag beschäftigen. Die Grünen verlangen von der Bundesregierung vollständige Aufklärung über den Unfall, bei dem Ende vergangenen Jahres 50 Tonnen Schweres Wasser in den Reaktorraum liefen. Insbesondere geht es um den deutschen Beitrag bei der Instandsetzung des Reaktors. In der Antwort auf eine frühere Anfrage hatte die Bundesregierung erklärt, die Überholungsarbeiten im Reaktor Atucha I im Herbst vergangenen Jahres seien unter der „Gesamtkoordinierung eines Ingenieurs von Siemens/KWU“ und unter Mitwirkung von „40 bis 45 Deutschen“ durchgeführt worden. Unmittelbar nach Abschluß dieser Arbeiten waren die 50 Tonnen Schweres Wasser ausgelaufen. Siemens-Sprecher Breyer bestätigt, daß auch nach Bekanntwerden der aktuellen „Betriebsstörungen“ in Atucha Techniker aus Erlangen „angefordert“ wurden. In Argentinien wird nicht damit gerechnet, daß die aktuellen Schwierigkeiten zur Revision des ehrgeizigen nationalen Atomprogramms führen.

Erklärtes Ziel des südamerikanischen Landes ist die nukleare Autarkie nicht nur auf dem Gebiet der sogenannten friedlichen Nutzung der Atomenergie. Das Land weigert sich beständig, den Atomwaffensperrvertrag oder den Vertrag von Tlateloco über eine atomwaffenfreie Zone in Südamerika zu unterzeichnen.