UNBEDINGT HINGEHEN!

■ „Le Mystere des voix Bulgares“ heute im Tempodrom

Es bleibt einem überhaupt keine Wahl, man muß einfach begeistert sein. 24 Frauen, unverfälschte Volksmusik, fremd klingende Harmonik, Avantgarde, Mysterien aus Bulgarien, das ohnehin niemand kennt. Beruhigend, daß man keine Lobeshymnen als Vorbericht schreiben muß, weil jeder hingeht, der hingehen muß.

Eine lawinenartige Vermehrung von musikalischer Fachterminologie beginnt sich abzuzeichnen: stürzende Quint und Quartparallelen, archaische Diaphonie, modernste, gewagteste Polyphonie, fehlende Chromatik, keine Temperierung, keine Form- und Rhythmushierarchie, Sinustöne, asymmetrische Rhythmen! Wem das nicht reicht, der bekommt die Geschichte Bulgariens zu hören: Orpheus, der Thraker, ottomanische Unterdrückung, Byzanz, türkische Despotie, Kirchenstil, Lithurgie, heilige Traditionen als Protest bei soviel Unterdrückung rutscht dann die Stimme in den Kehlkopf, weiter geht's ja nicht.

Sie singen so schön, daß es einen manchmal fröstelt, aber ich wundere mich doch, warum die gregorianischenm Choräle, Ligeti und Punderecki vereinsamt in den Plattenregale ruhen. Vereint lauscht der Yuppie neben dem Gemeindemitgleid, der John Peel-Hörer neben der baumwollenen Musikstudentin. Weltmusik, fremde Kulturen im Original, Hörgewohnheiten erweitern, veränderte Wahrnehmung von Unterschiedlichem - es kracht nur so vor gutgemeinter Pädagogik und schmerzhaft stechenden „Szene„-Defiziten.

Und ist der Geschmack im übrigen noch so schlecht, mit den „Voix Bulgares“ im Plattenschrank und einem Besuch im Tempodrom ist alles vergessen. „Weltmusik“ ist gut, weil sich alle Auseinandersetzungen erübrigen. Der musikalische „Internationalismus“ als Öko-Musik auf dem Siegeszug durch die Wohnzimmer: ich Ghana, du Java, er China, wir Burma, ihr Japan, sie Indonesien. Man kann das nur begrüßen und ganz, ganz gut finden. Die Frauen haben den Beifall verdient, der Veranstalter den Erfolg, die Musik die Begeisterung, und zum Frühstück hören wir dann wieder SfB 2 - unsere Welle.

Konrad Heidkamp