: A really british piece
■ Nigel Osbornes, Craig Raines und Peter Sellars‘ Pasternak-Oper „The Electrification of the Soviet Union“ im Berliner Hebbel-Theater
Christiane Peitz
Ein Mann sitzt an einem Tisch. Er hält Papier und Stift. Ein Dichter? Man weiß es nicht. Aber dann die Musik: Laut setzt sie ein, mit viel Blech, ein schräger Parademarsch zu Ehren von Dichters Genie. Der Mann steigt auf den Stuhl, dann auf den Tisch und trägt seine Verse vor, mit Pathos und Pomp und die Stirn gefurcht wie die von Beethoven. Die Pose läßt keinen Zweifel: Was wir sehen, ist tragisches Künstlerschicksal, was wir hören, ist Oper. Es ist also nicht komisch und auch nicht tragisch und doch beides zugleich. Die Engländer nennen das „strange“. Der britische Librettist Craig Raine spricht von einer Pasternak-Travestie - bei dem Mann auf der Bühne handelt es sich nämlich um Boris Pasternak - und Regisseur Peter Sellars nennt „The Electrification...“ „a really british piece about a russian subject put on stage by an American now shown in Berlin“.
Der Doppelgänger des Mannes, seine Vor-1918-Ausgabe gewissermaßen, fährt Zug. Steht also still und die Landschaft rast vorbei. Deshalb rattert hier keine Lokomotive, sondern es sind die Kulissen, die sich bewegen (Bühne: George Tsypin). Blitzschnell rücken Häuserwände von vorne nach hinten, verschieben sich Blickwinkel und Straßenfluchten. Auch das Bett, auf dem der Dichter sich grämt, wird beim Szenenwechsel mit Strick samt Kulisse in den Hintergrund gezogen. Diese Oper bewegt nicht das Gemüt, sie macht den Bühnenbildern Beine und verwirrt so die Sinne. Sellars tut so, als habe er es nicht mit einer Bühne, sondern mit Kino zu tun. Er hält die Bilder an, stülpt sie um oder schneidet sie hart gegeneinander. Und er tut nicht nur so, er kann es tatsächlich.
Der besoffen grölende Kriegsveteran schwankt weniger über die Bühne als die Kulissen um ihn herum. Man möchte hinrennen und sie festhalten.
Die Erde schwankt, nichts hat seinen Platz oder geht so, wie es soll. Sogar der Abgang für die Sänger am rechten Bühnenrand ist viel zu eng: sie müssen sich durchquetschen. Irgendwie sind sie alle nicht richtig im Kopf, und das, so scheint es, macht sie singen. Die Schwester Natascha flirtet am Telefon mit dem Revoluzzer Lemokh (ein Punktstrahler, ein per Hand durchs Fenster gereichter Telefonhörer, ein bißchen Singsang und schon hat Sellars Verliebtheit im Bild) und hält anschließend flammende Lobreden auf ihn und seine Taten. Immer dasselbe, drei- viermal hintereinander und wieder so richtig opernmäßig. Die Musik freut sich und macht mit. Pure Propaganda, sagt sie. Sie glaubt Natascha kein Wort. Oder die Dienstmagd Anna, in die sich der Dichter sterblich verliebt. Sie ist Witwe, sie wird von den Herrschaften schlecht behandelt - ein Opfer. Das Licht wirft ihren Schatten als Mater Dolorosa an die Wand. Dabei singt sie so, daß man hört, sie selbst produziert das Leiden. Weil es ihr Lust macht. Sie wirft sich hin, sie biegt ihren Körper und streicht mit ihrer Hand an ihm entlang: akrobatische Übungen einer Nymphomanin. Ich weiß nicht, ob die Lust am Leid komponiert oder inszeniert ist. Jedenfalls verrät Anna, daß Gesang die Kunst des Forcierens ist, Oper eine Übertreibung.
Entweder schmeichelt die Musik, oder sie überredet, oder sie übertönt. In „The Electrification“ ist sie nie ganz einverstanden mit dem, was auf der Bühne geschieht. Oder umgekehrt. (Komponist und Regisseur sind sich beim anschließenden Podiumsgespräch über die Ko-Produktion Osborne, Raine, Sellars auch alles andere als einig: Die scheinen zusammenzuarbeiten, gerade weil sie etwas gegeneinander haben). Vielleicht weiß man deshalb nie, ob man lachen oder weinen soll. Der Zuschauer amüsiert sich, aber im nächsten Augenblick sieht dieser schwitzende Dichter so eklig aus, daß man ihn am liebsten in den Waschzuber stecken möchte. Und wenn Madame Frestln mit Suppenschüssel ausgestattet immer wieder hastig auf der bühne herumhastet, hat sie als Hysterikerin unser ganzes Mitleid und läßt dennoch offen, ob sie sich nicht vom Dorftheater versehentlich in die falsche Produktion verirrt hat.
Anna gibt Pasternak einen Kuß. Die Geigen säuseln, dann stört die Trompete. Ganz kurz nur bläst sie dazwischen, aber das genügt, um die beiden auseinanderzubringen. Danach gerät der Dichter in Ekstase und greift nach den Sternen; mit Daumen und Zeigefinger und erhobenem Haupt. Ein Handgriff und er hat sich den Stern ans Herz gezogen und drückt ihn fest auf die Brust. Er schwitzt und zittert und schielt dabei, und seine Hose scheint immer mehr Schlag zu kriegen. Dazu singt er einen Hymnus auf die Liebe. Eine winzige Geste nur, eine einzige verrückte Pose. Sellars läßt die Sänger noch 1000 andere vollführen. Keine davon habe ich je gesehen.
Anna schreibt einen Brief. Bei Sellars sieht das so aus: Sie hält ein Blatt Papier, faltet das untere Drittel nach oben, leckt den oberen Rand ab und verharrt mit rausgestreckter Zunge.
Pasternak geht zur Hure. Sie ist nackt, pinkelt noch, bevor sie sich an die Arbeit macht, dann legt sie sich aufs Bett. Für Sellars ist es die selbstverständlichste Sache von der Welt. Verstört ist wieder nur der junge Dichter, der kurz darauf nichts besseres zu tun hat, als ihren Fuß zu besingen.
Keine Spielhandlung, nur montierte Szenen, Traumsequenzen, Sketche, ein paar Gesten, ein Paar Posen: Skizzen. Das was den drei Herren beim Lesen von Pasternak aufgefallen war. Sie sagen, es ist kein historisches Stück, Geschichte habe sie nicht interessiert.
Ein Stück über Weltverbesserer und solche, die es sein wollen. Hauptsächlich über Letztere. Und über die, von denen Weltverbesserer glauben, daß man für sie alles ändern müsse. Ein Stück über Verrückte. Aber es denunziert sie nicht, es interessiert sich nur für sie.
Diese Inszenierung hat Sellars für die letztjährigen Opernfestspiele in Glyndebourne gemacht. Es sangen Sänger der Glyndebourne-Opera, es spielte das RIAS-Jugendorchester unter Elgar Howarth.
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