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Alberne Verwaltungstechnik

■ Eine Sängerin zwischen Postgebühren, Mahnschreiben und Bibliotheksbürokratie

„Ich bin eine gesunde Zelle in einem Krebsgeschwür von Wirtschaft und ich schreie!“ Irm Seufert, schrille Koloratur -Kabarettistin und Agit-Propagandistin aus 1 Restberlin 36, pflegt in ihren Auftritten zwischen glutvollen russischen Balladen und amerikanischem Musical alles zu geißeln, was drunter und drüber geht hierzulande und im Weltenrund: Ozonloch, Krebs, Aufrüstung, marktwirtschaftliche Menschenverachtung, BVG-Preispolitik, Kreuzberger Mieten. Kreuz und quer und ohne sprachliche Tabus zieht sie ihre Querverbindungen: „Nazitum ist, wenn sich niemand mehr eine BVG-Fahrkarte leisten kann.“ Einen Anlaß für Irm Seuferts „Schreianfälle“, so ganz aus dem richtigen Leben, hat die Exzentrikerin exklusiv an die taz weitergereicht: ihr Briefverkehr mit der Fachbereichsbibliothek Erziehungswissenschaft der FU um eine Buch-Mahngebühr. Die Chronologie der Realsatire: Ende März 1988 leiht Irm Seufert sich das Buch „Lit 19 b/tol 1“ (Tolstoi?). Sie verlängert die Ausleihe zweimal telefonisch, denn sie kann nicht selbst in der Bücherei auflaufen, weil sie gehbehindert ist („seit 1980 bekomme ich in der freien Marktwirtschaft keine Schuhe mehr - Konsumterror“). Die Bücher sind also bis zum 21. Juli verlängert, doch bereits am 5. Juli erhält die Kabarettistin ein Mahnschreiben über 2 Mark mit der Bitte um Buch-Rückgabe. Irm Seufert schickt das Buch postwendend zurück, doch prompt erhält sie einen Monat später, am 5.August, wieder eine Mahnung, 2 Mark zu überweisen - sonst werde die Rechtsabteilung eingeschaltet. Irm Seufert schickt die 2 Mark per Postanweisung, die allerdings insgesamt 5 Mark kostet. Ende August bringt der Postbote Irm Seufert ihr die 2 Mark zurück - unzustellbar, angeblich. Sie nimmt das Geld nicht an und bittet den Postler, es nochmal zu versuchen. Fünf Tage später kommt das dritte Mahnschreiben der Bibliothek, diesmal bereits mit Androhung des Gerichtsvollziehers. Insgesamt haben sich, beide Seiten zusammengerechnet, bereits 7,30 Mark Postgebühren rund um den bereits wieder im Regal stehenden Band angehäuft.

Ein letztes Hoffnungs-Schreiben hat Frau Seufert am Sonntag losgelassen. Darin erklärt sie den Bibliothekaren haarklein den Ablauf des Briefgefechts. Unter Punkt 9 schreibt sie: „Ich frage Sie allen Ernstes, ob Sie nicht selber Ihre Verwaltungstechnik ein bißchen zu albern finden.“ Mit vorzüglicher Hochachtung. Irm Seufert: „Diese Sache mit dem Buch ist doch nur der millionenfach vergrößerte I-Punkt auf der Sinnlosigkeit, die die Bürokraten produzieren - dadrin wird Verbrechen verpackt!“

henk

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