Der allmächtige Täter existiert nicht

■ Entgegen dem Mainstream in der Frauenbewegung plädiert die Sexualtherapeutin Margret Hauch für die Auseinandersetzung mit sexuellen Gewalttätern / Denn das Bild vom „allmächtigen“ Täter aufzubrechen, bedeutet Machtgewinn für Frauen

taz: Margret Hauch, Du arbeitest als Therapeutin mit Sexualstraftätern. Es gibt die weitverbreitete Ansicht, es könne nicht Sache der Frauen sein, herauszufinden, was in den Köpfen von Vergewaltigern vor sich geht...

Margret Hauch: Es wäre tatsächlich absurd zu erwarten, daß Frauen, die Notrufarbeit machen oder sich um mißbrauchte Mädchen kümmern, gleichzeitig noch wahnsinnig differenziert über die Psyche der Täter nachdenken. Mir selbst gelingt das auch nicht, wenn ich Opfer bin, wenn ich zum Beispiel auf der Straße angemacht werde. Aber später, aus einem Abstand heraus, kann ich versuchen, auch die Perspektive des Mannes dabei zu analysieren, und damit gewinne ich ein Stück Macht zurück. Es ist ein großer Irrtum zu denken, daß Verstehen immer gleich Verzeihen bedeutet. Ich kann haargenau verstehen, wie es zu einer Handlung kam, und sie trotzdem zutiefst ablehnen.

Und worin besteht dieses Verstehen?

Indem ich mit sexuellen Gewalttätern arbeite, lerne ich ziemlich viel über Männer überhaupt. Für mich ist klar, daß sexuelle Gewalt immer ein Ergebnis von Schwäche und nicht von Stärke ist. Als Therapeutin sehe ich diese Schwächen aber nicht aus der Position heraus, aus der Frauen schon immer männliche Schwächen kennengelernt haben: als Mütter oder Gattinnen, die sie auszubügeln haben. Als Therapeutin kann ich dem jeweiligen Mann seine Schwäche aufzeigen, ihn damit konfrontieren. Ich kann mit ihm Stadium für Stadium nachzeichnen, wie es zum Beispiel dazu kam, daß er eine Frau vergewaltigt hat. Möglicherweise gab es da tatsächlich einen Punkt, von dem an der Mann nicht mehr „steuerungsfähig“ war. Aber daß es dahin kam, dafür trägt er die Verantwortung. Ich kann sagen: Wenn Sie die und die Situation wieder aufsuchen, wird so etwas wieder passieren. Ich biete ihm dann an, mit ihm gemeinsam andere, d.h. nicht gewalttätige Handlungsstrategien zu erarbeiten.

Nun kannst Du an den sozialen Verhältnissen, in denen die Menschen leben, durch die Therapie wenig ändern...

Natürlich sind die Möglichkeiten sehr begrenzt, wenn zum Beispiel ein Täter 35 Jahre alt ist, 15 Jahre Knast in kleinen Abschnitten hinter sich hat - wegen sexueller und nichtsexueller Delikte - eine Wohnung und eine Arbeit bräuchte, aber alleine 'rumhängt und keine Kontakte kriegt. Da fehlen dann einfach ein paar Voraussetzungen, die jemand, der auch auf eine Identitätsstütze über Leistung angewiesen ist, bräuchte, um sich im Leben einzurichten. Da reicht Psychotherapie nicht aus, da geht es auch um politische Fragen und Forderungen, zum Beispiel: bezüglich der allgemeinen Arbeits- und Wohnungsmarktlage. Ich denke, wenn man die Leute früher aus dem Knast entlassen und das Geld statt dessen für solche Dinge ausgäbe, würde das die Rückfallgefahr ganz drastisch mindern.

Gibt es für Dich in der Therapie Parteilichkeitskonflikte? Denkst Du zum Beispiel in Fällen sexueller Gewalt in der Familie, daß es für den Mann gut wäre, wenn die Frau bei ihm bliebe, für die Frau aber besser, wenn sie ginge?

Diese Frage hat mich lange sehr beschäftigt. Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es diesen Interessengegensatz letztlich nicht gibt. Daß das, was für die Frau schlecht ist, für den Mann nicht gut sein kann und umgekehrt.

Nun siehst Du ja vor allem Männer, die mit ihren Gewalthandlungen gesellschaftlich angeeckt sind. Andere kommen damit vielleicht ein Leben lang durch und fühlen sich gut dabei.

Das sehe ich nicht so. Auch bei den Paaren, die zu uns in die Beratung kommen, geht es häufig darum, daß die Männer ihre sexuellen Wünsche trotz einer ablehnenden Haltung ihrer Partnerin mehr oder weniger erfolgreich durchsetzen, d.h. in gewisser Weise sexuelle Gewalt ausüben, selbst wenn es dabei so gut wie nie zu Tätlichkeiten kommt.

Auch wenn meine Parteilichkeit auf der Seite der Frau liegt, ist dabei aber nicht zu übersehen, daß auch die Männer unter ihren Gewalthandlungen leiden. Der Mechanismus, daß Gewalt Schwäche überdeckt, zieht sich durch alle Schichten. Ich halte diesen Punkt für so brisant, weil er am gesellschaftlichen Männerbild kratzt. Schwäche ist ja etwas sehr viel weniger Hochgeschätztes als Macht. Natürlich hat der Mann im Moment einer Vergewaltigung die Macht - aber wenn man hinterher darüber redet und es bei diesem Bild beläßt, dann läßt man die Koppelung sexueller Gewalt und Macht unhinterfragt, dann bleibt man bei der Behauptung, daß Männer davon profitieren und sich damit was Gutes tun.

Solche gesellschaftlichen Zuschreibungen greifen dann wieder in konkreten Situationen - ich denke, daß sie dazu beitragen, daß Männer tatsächlich daran glauben, daß sie über die Ausübung sexueller Gewalt einen Machtgewinn realisieren können. Diese Vorstellung sollten wir Frauen nicht auch noch unterstützen. Deshalb ist mir eine Bewußtseinsveränderung an dem Punkt so wichtig.

Es gibt in der Frauenbewegung einen weitgehenden Konsens zu dem Satz: Jeder Mann kann zum Vergewaltiger werden. Was hältst Du eigentlich von dieser These?

In der Tat hat mir dieser Slogan sehr geholfen, klarzumachen, daß es eben nicht nur um die Handvoll böser Buben geht, die vor dem Richter landen. Tatsächlich aber ist in der heutigen Debatte der Begriff Vergewaltigung nicht so besetzt, daß der Mann neben dir, der Liebhaber, Partner oder Sohn gemeint sein kann.

Die Frage ist: Wann kann eine Frau sich selbst gegenüber eingestehen, daß ihr sexuelle Gewalt angetan wird? Wenn es nur die Vorstellung gibt, daß das etwas ist, das mit mindestens zwei Jahren Knast bestraft wird, bringt keine Frau das mit ihrem Mann in Verbindung, der das Haushaltsgeld in die Kneipe trägt, weil im Bett mal wieder nichts war... Aber auch das ist sexuelle Gewalt. Um das breite Spektrum sexueller Gewalt gegen Frauen sichtbar zu machen, halte ich eine sehr flexible gesetzliche Regelung für sinnvoll, etwa im Sinne eines Vorschlags, wie er von Hamburger Rechtsanwältinnen entwickelt worden ist, wonach als Mindeststrafe drei Monate Haft oder Geldstrafe vorgesehen ist. Es geht mir vor allem darum, daß wir Frauen bessere gesellschaftliche Voraussetzungen bekommen, um sexuelle Gewalt auch in den alltäglichen Verdünnungen als solche sofort zu erkennen und zu benennen, anstatt etwa mit Schuldgefühlen zu reagieren.

Du hast ja auch das Thema „Lustlosigkeit“ in den Zusammenhang sexueller Gewalt gestellt...

Ich finde es beeindruckend, wenn man sich die Daten der Beratungsstellen ansieht: Nicht nur daß sehr viel mehr Frauen dort auftauchen als Männer. Es werden von ihnen auch doppelt so viele behandelt wie von den Männern. Und zwar die meisten wegen Appetenzstörungen, das heißt wegen Lustlosigkeit. Dabei stellt sich für mich im Gespräch mit diesen Frauen immmer wieder heraus, daß sie schon Lust haben - nur nicht unbedingt auf das, was die Männer wollen. Lustlosigkeit einfach als „sexuelle Funktionsstörung“ zu klassifizieren - für mich ist das Ausdruck sexueller Gewalt in Reinkultur.

Du berichtest in einem Artikel darüber, daß viele Frauen, die vergewaltigt worden sind, erzählen, daß sich der gewaltsam durchgesetzte Geschlechtsverkehr letztlich so sehr nicht von ihren „freiwilligen“ sexuellen Erfahrungen unterschieden habe. Dies sei gerade das Schlimme gewesen. Müssen wir davon ausgehen, daß wir Sexualität mit Männern immer unter dem Vorzeichen dieses Gewaltverhältnisses erleben?

Ich denke, es gibt schon einen sehr eindeutigen und klaren Punkt, an dem eine Frau empfindet: Jetzt werde ich vergewaltigt. Das ist sicher bei allen Frauen so, die nachts auf der Straße überfallen werden. In anderen Bereichen - im Freundeskreis, in der eigenen Beziehung, auf dem Betriebsausflug - ist dieser Punkt sehr viel stärker individuell bestimmt und nicht durch irgendwelche Kriterien festzulegen. Dieses Gefühl der totalen Ohnmacht, das eine Frau überfällt, wenn sie vergewaltigt wird, ist sicher etwas ganz anderes als ihre alltäglichen sexuellen Erfahrungen. Ich denke aber, daß in diesem Moment all das in ihr hochkommt, was an alltäglicher sexueller Gewalt sonst noch unter dem Deckel gehalten wird und ihr voll ins Gesicht schlägt.

Das wäre dann ja so etwas wie eine Mittäterschaft der patriarchalischen Gesellschaft an jeder einzelnen Vergewaltigung bzw. eine Mitschuld an deren Folgen. Doch die Debatte - auch zum Beispiel bei den Grünen - entzündet sich ja besonders heftig an der Frage, wie mit dem einzelnen „überführten“ Täter umzugehen ist.

Mein Eindruck ist, daß es auch in der Frauenbewegung oft darum geht, die Täter dingfest zu machen, ein Gatter zu bauen, in das man die Sündenböcke sperren kann, um die anderen Männer als Nicht-Sündenböcke sehen zu können.

In der Tat scheint es im Umgang mit Opfern sexueller Gewalt sehr viel schwieriger zu sein, Tat und Täter in einem gesellschaftlichen Zusammenhang zu sehen, als in der Arbeit mit Tätern. Für die Opfer ist das Problem zunächst lokalisiert im Täter - und der wirkt aus dieser Perspektive so übermächtig, daß es oft kaum möglich ist, noch „dahinter“ zu sehen. Der sexuelle Gewaltakt ist dann ein solcher Brocken, daß er den Blick auf die alltägliche sexistische Gewalt gegen Frauen und Mädchen verstellen kann.

Interview: Irene Stratenwerth

Am kommenden Wochenende findet in Hamburg eine Podiumsdiskussion mit anschließenden Arbeitsgruppen statt: „Alltägliche Gewalt gegen Frauen - Frauenwiderstand gegen Männergewalt!“ Auf dem Podium diskutiert u.a. Margret Hauch