: Zwei Finger über dem Boden
■ Der Regisseur und Chef der Komischen Oper Ost-Berlin über seine Bayreuther „Ring„-Inszenierung. Ein taz-Gespräch, ergänzt duch Ausschnitte einer Werkstattdiskussion, veranstaltet vom 38.Internationalen Jugend-Festspieltreffen
Christiane Peitz
taz: Der Anfang vom „Ring“ ist bei Ihnen kein Anfang. Das Spiel ist ja aus, als es losgeht. Warum fangen Sie mit dem Ende an?
Harry Kupfer: Die Ring-Geschichte, die wir erzählen, begibt sich zwischen zwei Katastrophen. Das Stück beginnt nach einer Katastrophe, mit denen, die da übriggeblieben sind, die sich wieder auf den Weg ihrer „Straße der Geschichte“ machen und nun dieselben oder zumindest ähnliche Fehler machen und die Welt einer noch größeren Katastrophe zuführen. Es handelt sich also um eine spiralförmige Entwicklung. Am Schluß der Götterdämmerung geht ja nicht die Welt unter; die Gibichungenhalle stürzt ein, Walhall geht in Flammen auf, und es bleiben Menschen übrig, die die Katastrophe überleben.
Das musikalische Material des Rheingold-Beginns, das hat Boulez so schön nachgewiesen, ist ja auch schon gestaltetes, geschichtetes Material. Es beginnt nicht bei Null, es geht bloß wieder neu los, es geht etwas weiter.
taz: Der Überlebende, der für den Zuschauer identifizierbar ist, ist Alberich. Er liegt - wie ein Toter - vorn an der Rampe, und als er die Rheintöchter sieht, kommt wieder Leben in seine Glieder.
So steht es bei Wagner: der Zwerg Alberich ist einer der Überlebenden der Götterdämmerung.
taz: Auffällig ist ja, daß die Überlebenden Deformierte sind. Alberich scheinen dabei ganz besonders ihre Sympathien zu gelten. Was bedeutet Ihnen dieser Zwerg?
Unansehnlich ist er, aber er hat eine gewisse Vitalität. Im Grunde ist er - genauso wie die Götter - eine Spezies der menschlichen Gattung. Durch Umstände persönlicher und objektiver Art wird er dazu gebracht, als erster die Wahrheit zu sagen, indem er den Kampf ansagt. Den Kampf um den Ring und damit um die Macht. Alberich lügt ja weniger als die anderen, vor allem als die Götter.
taz: Zunächst will er aber doch nicht die Macht, sondern nur ein bißchen Liebe.
Beziehungsweise das, was er unter Liebe versteht. Die Rheintöchter provozieren ihn ja auch. Er ist ja nicht auf Vergewaltigung aus, sondern er wird gereizt vom Femininen. Da passiert das Normalste von der Welt. Er wird zurückgestoßen - die Mädchen verspotten ihn aufgrund seines Aussehens - weil er so häßlich ist. Da sucht er sich Ersatz und erkennt die Chance, daß er sich durch Macht kaufen kann, was ihm an Lust verwehrt wird. Und mehr noch: die Weltherrschaft.
Dabei ist er schon nach ein paar Minuten Rheingold, spätestens nach einer Stunde, der Reingelegte. Die anderen, die sich so edel und so hehr geben, behandeln ihn in übelster Weise. Der Widerspruch ist im Ring also nicht zwischen Dunkel, dem bösen Prinzip a priori, und den hellen Wesen als Inkarnation des Guten angelegt. Nirgendwo gibt es das nur Böse oder das nur Gute. Wagner hat das sehr dialektisch gesehen. Siegfried
Zuschauer: Wenn Sie aber in Ihrer Inszenierung im Sinne der spiralförmigen Entwicklung am Ende eine höhere Stufe erreichen wollen, dann müßten sie doch die Entstehung einer Anti-These (zur bürgerlichen Welt: Familie Wotan und zur kapitalistischen Welt: Alberichs Nibelheim), einer Gegenkraft zulassen. Sie machen aber aus Siegfried eine Marionette Wotans.
Siegfried ist nicht die Alternative. Wagner hatte schon nach dem ursprünglichen Entwurf von Siegfrieds Tod (1848) mit Schrecken entdeckt, daß dieser eben nicht der Held der Zukunft sein kann. Seiner Entdeckung verdanken wir doch, daß wir uns heute nicht zwei oder drei, sondern über 13 Stunden Musik anhören müssen. Daß er das Drama bis zurück zum Rheingold ausweitete und daß er die Heldenfigur auswechselte.
Das Problem Siegfried ist weniger eines der Manipulation als der fehlenden Humanisierung. Er ist ein Barbar - wobei er nicht schuld hat an diesem Zustand; deshalb verlagert sich die ganze Problematik auf Wotan. Der widersprüchliche Wotan wird zur Hauptfigur und zum Held des Rings.
Wenn es überhaupt eine Gegenfigur gibt, dann ist das eher Sieglinde, und bedingt auch Siegmund. Siegmund ist der einzige, der im Sinne eines aufklärerischen Ideals eine echte Alternative darstellt. Der fängt an als manipulierte Kampfmaschine - er hat ja nur das Schlagen gelernt -, kommt völlig erschöpft in diese Hundingwelt und trifft dort Sieglinde als Schwester und Frau. Sein Ethos bewährt sich dann bei der Todesverkündung, wo er trotz all dem, was ihm versprochen wird - ewiger Glanz und alle Wonnen Walhalls und die Frauen und Pipapo - sich einfach entscheidet für die Liebe zu Sieglinde. Dort findet echte Humanisierung statt.
Zuschauer: Aber aus Siegmund wird doch nichts.
Trotzdem findet sie statt. Gesetz
taz: Das Gesetz und seinen Bruch stellen Sie sehr sinnfällig auf die Bühne: Die „Straße der Geschichte“ ist bedeckt mit seltsamen Zeichen, ähnlich den Runen auf Wotans Speer, und der Krater, aus dem sich im allerersten Bild der Rauch verzieht, ist ja derselbe, aus dem dann das Rheingold erstrahlt und später Walhall aufragt. Immer wieder dieser Riß, immer wieder das Ende vorweggenommen. Wenn in Chereaus „Ring“ die Natur von vornherein eine bezwungene war - der Rhein als Staudamm -, so scheint in Ihrer Inszenierung die Natur von vornherein zerstört.
Es gibt keine Natur, oder wenn, dann als künstliches Requsit: Laubgirlanden aus Plastik.
Nach dieser ersten Katastrophe ist Natur als Äquivalent oder als Alternative nicht mehr vorhanden. Es geht darum, wie Menschen damit fertig werden, daß das, was Leben ausmacht, zerstört ist. Der Waldvogel
Zuschauer: Sie lassen ja gar keine von Wotan unabhängige Kraft zu, lassen Siegfried gar nicht wachsen in der Idealität des Waldes. Dabei gibt es doch diese von den Göttern autonomen, objektiven Kräfte.
Wo?
Zuschauer: Im Waldweben, als Siegfried daliegt und den Vogel versteht.
Das ist doch keine Kraft gegen Wotan, sondern Ihre persönliche Sentimentalität, weil Ihnen die Musik so gut gefällt.
Die Frage nach der Autonomie der Natur ist natürlich berechtigt. Zunächst: Natur kann man nicht komponieren. Einen Baum kann man nicht komponieren, bestenfalls wie er raschelt, wenn der Wind durchgeht. Das Waldweben hat viel mehr mit der Verlassenheit Siegfrieds zu tun, mit seiner momentanen Verfassung, als mit einem Naturbild. Ein Mensch, der zum erstenmal in seiner Existenz allein ist, setzt sich mit seiner Bindungslosigkeit, mit seiner Verlassenheit auseinander. Das ist doch keine billige Programmusik.
Zuschauer: Und was ist mit dem Waldvogel? Sie haben ihn an einen Faden gehängt und auf Wotans Speerspitze gesetzt. So steht es nicht bei Wagner.
Der Waldvogel hat viel Diskussion, Erregung und böse Briefe eingebracht. Ich hätte gar nicht gedacht daß so ein harmloses Vieh soviel Ärger machen könnte. Schon bei Chereau hat Wotan den Vogel im Käfig in den Wald gehängt. Damit war klar, was der Vogel sagt, ist Wotans Meinung, ist manipuliert. Ich dachte, darüber hat man sich damals aufgeregt - bis zur Einschaltung von Tierschutzvereinen: die Wagnerianer schrecken wirklich vor nichts zurück. Ich dachte, jetzt kann man mal richtig zeigen, daß der Vogel das Sprachrohr Wotans ist und genau die Informationen in genau der richtigen Reihenfolge liefert, die Wotan Siegfried geben will. Deshalb tanzt der Vogel auf der Speerspitze, damit auch der Dümmste merkt, was da los ist. In zehn Jahren wird der Auftritt Wotans sicherlich nicht mehr nötig sein, dann weiß man auch so, woher das Waldvöglein von Energie gespeist ist.
Man darf bei Wagner nicht blindlings glauben, was die Figuren über sich selbst sagen. Wotan kann hundertmal erklären, daß er abdankt, daß er resigniert, daß er sich raushält und nur noch wandert. Man muß doch sehen, wie wandert er und was macht er dabei.
Eine der kompliziertesten Szenen überhaupt, die ich lange nicht verstand, ist die Wissenswette. Wagner macht da etwas Geniales. Wotan hofft auf Siegfried, auf diesen flügge gewordenen Wildling, der einige Kilometer entfernt vom Brünnhilden-Felsen aufgewachsen ist. Nun muß Wotan Siegfried dazu bringen, erstens das Nothung-Schwert wieder funktionstüchtig zu machen und zweitens zu Brünnhilde zu gehen. Damals gab es ja keine Straßenschilder oder Autobahnen. Gleichzeitig darf Wotan sich nicht einmischen.
Also muß Wotan dem Mime die Geschichte mit dem Schwert klarmachen, aber er darf ihn nicht von sich aus aufklären, sondern muß Mime dazubringen, selbst danach zu fragen. Deshalb die Wissenswette und deshalb später der Waldvogel. Wieder hat Wotan manipuliert. Weshalb er am Anfang des zweiten Akts vor der Drachenhöhle umso lauter öffentlich vor aller Welt erklären muß, daß er sich nicht einmischt.
Chereau
taz: Sie verzichten nicht nur auf die Natur, sondern auch auf Zivilisation. Das 19. Jahrhundert wird nicht auf die Bühne gestellt und auch das 20.Jahrhundert wird zwar gelegentlich zitiert, aber das Bühnenbild bleibt fast abstrakt, zeitlos. Ist das nicht ein Schritt von Chereau zurück zu Wieland Wagner ?
Wir wollten zunächst einmal weg von der Materialschlacht der letzten RingInszenierungen. Chereau mit seiner konsequenten Rückbindung des Werks an dessen Entstehungszeit, also der Ausstellung der Kapitalismuskritik, hatte damals ja etwas anderes im Sinn, als die Bühne vollzustellen.
(auf der Podiumsdiskussion:) Natürlich habe ich Chereau sehr geliebt, und meine früheren Inszenierungsversuche für Wien und für Berlin waren sehr, zu sehr von ihm beeinflußt. Heute bin ich froh, daß ich diese Versuche nie realisieren konnte; ein bißchen war es immer der illustrierte Bernard Shaw. Ich war in der Bedrängnis des Epigonentums.
Was mich von Chereau entfernt, ist die Tatsache, daß die Kapitalismuskritik nur die halbe Wahrheit ist. Sonst könnte man doch provozierend sagen, daß der Ring, wenn man ihn heute inszeniert, auf keinen Fall in der östlichen Welt spielt, weil die ja von sich behauptet, den Kapitalismus abgeschafft zu haben. Was ja der größte Blödsinn ist. Der Ring nimmt alle Gesellschaftsordnungen aufs Korn, alle Versuche, unsere Welt auf die eine oder andere Weise bewohnbar einzurichten. Der Ring ist ein Gleichnis, und Gleichnisse haben es an sich, daß sie gerade in ihrer mangelnden Stimmigkeit eine innere Logik haben, die sie anwendbar machen auf andere Epochen. Die Grundproblematik ist doch der Konflikt zwischen menschlicher Freiheit und nunmal notwendigen Organisationsformen, gesellschaftlichen Ordnungen, ein letztlich unlösbarer Konflikt, an dem auch Wotan scheitert. Spielzeit
Zuschauer: Was die fiktive Spielzeit angeht, gibt es ja drei Möglichkeiten: das Heute, die Entstehungszeit des Werks oder die Zeit, die Wagner im Sinne hatte: eine „mythische“ Vorzeit. In ihrer Inszenierung kamen deutliche Zeitbezüge zur Geltung, Bezüge zu einer Art Postmoderne, zu einer extrem technischen gegenwärtigen Welt.
Die Zeitlosigkeit dieser fast symbolischen Bühne ist nicht zu verwechseln mit einer Tabula Rasa. Schon die „Straße der Geschichte“, die die Plattform für den ganzen Ring bildet, gibt durch ihre Zeichnung Auskunft über Kultur und Geschichte. Bloß daß die Dechiffrierung der Zeichen dem Zuschauer überlassen wird.
Wir wollten eine Welt auf die Bühne stellen, die durchaus die Möglichkeit einer Identifikation bietet, andererseits aber auch Distanz schafft durch eine doppelte Verfremdung. Diese schien uns notwendig, damit wir uns, deren Probleme ja verhandelt werden, selbst auf den Kopf gucken können. Unsere Absicht war eine Mythologisierung der Gegenwart. Das heißt, die Dinge, die auf der Bühne stehen, sind zwar deutlich als zu unserer Welt gehörig erkennbar, ob sie nun im Sinne von postmodern Neuem auf die „Straße der Geschichte“ gebaut sind, wie etwa der Walhall-Fuß, oder ob sie schon fast fossilen Charakter haben wie Mimes Schmiede oder die Höhle des Drachen. Aber das, was aussieht wie aus unserer Welt, ist schon verrottet, erodiert, übriggeblieben. Wir schauen uns das also von einem sehr viel späteren Zeitpunkt an. Unser Gleichnis ist gepolt auf Nähe - des Wiedererkennens und auf Distanz zum Zwecke des Betrachtens von uns selbst.
(beim taz-Gespräch): Dazu kommt, daß der Ring ja in sich sehr widersprüchlich, alles andere als ein geschlossenes Ganzes ist. Jedes Stück ist stilistisch anders: Das eine ist eine schwarze Komödie, das andere ein Psychotragödie, Siegfried ist ein halbes Scherzo und die Götterdämmerung ein Politkrimi. Auch in den einzelnen Stücken gibt es musikalisch, stilistisch immense Gegensätze und Brüche. Wenn Wagner die Wirklichkeit so komplex verarbeitet und ungeschminkt Dinge nebeneinandersetzt, läßt sich das ohne Widersprüche nicht inszenieren, sonst wäre es verlogen. Brünnhilde
taz: Das Widersprüchliche an Ihrer Inszenierung ist ja, daß es einerseits Szenen gibt, in denen die Bewegung dominiert die Rheintöchter zum Beispiel robben und kriechen mehr, als daß sie stehen, in Nibelheim wird permanent geklettert - und andererseits Akte, in denen sichtbar fast nichts geschieht. Die „Walküre“ ist fast ein Standbild, vor allem die großen Dialoge zwischen Brünnhilde und Wotan.
Äußerlich passiert nichts, innerlich dagegen unerhört viel. Entscheidend ist jeweils, was die Figuren miteinander auszumachen haben, ob dies auf einer geistigen Ebene geschieht oder auf einer Aktionsebene, wo Konflikte mit dem Körper ausgekämpft werden. Wotan und Brünnhilde haben gedanklich etwas miteinander auszutragen. Da muß eben Ruhe sein, da muß man zuhören können, die äußere Sensation hat da nichts zu suchen.
Zwischen Wotan und Brünnhilde spielen sich ungeheure Dinge ab. Die beiden haben ein utopisches Verhältnis zueinander. Zwei fast gleichberechtigte Partner. Vater und Tochter in einer beinahe inzestuösen Beziehung - Wagner hat den Freud ja vorweggenommen.
Zwar muß ihre Beziehung als utopische scheitern, aber dieses Mädchen bringt es ja fertig, Wotan eine neue Utopie einzureden, in dem Moment, als Wotan verkündet, er will nur noch das Ende. Sie überzeugt ihn davon, daß es doch weitergehen kann. Sie verweist auf Siegfried als möglichen Retter in der Not, und daß sie die denkbar beste Partnerin für ihn ist. Erst da bricht Wotan in seinen Hymnus aus: „Du kühnes, herrliches Kind“ und umgibt sie mit Feuer.
taz: Brünnhilde ist Wotan gegenüber doch nicht bloß raffiniert, sie überredet ihn doch nicht nur. Oder bin ich da zu romantisch?
Haben Sie eine Tochter?
Ja.
Wie alt ist sie?
Acht.
Na, dann werden sie die Raffinesse noch kennenlernen. Brünnhilde ist nicht einfach raffiniert, sie ist klug, verhält sich taktisch. Sie weiß, wie sie Wotan packen kann. Nie packt sie ihn kleinlich oder dämlich, indem sie winselt oder bettelt. Sie kommt mit Ideen, mit einem Zukunfsentwurf, das macht sie groß, und deshalb wird sie als das Beste der alten Welt in diesem Leuchtkubus für eine zukünftige, vielleicht bessere Welt aufbewahrt.
taz: Der Rauch, den das Feuer macht, dringt ja bis in den Zuschauerraum. Brünnhilde wird konserviert, Wotan trennt sich von ihr, und wir sind alle benebelt, werden alle mit verseucht.
Wenn dieser Effekt entsteht, bin ich gar nicht so unglücklich. Aber das kann man nicht steuern, das sind klimatische Druckverhältnisse, eine Frage der Temperatur. Wenn der Zuschauerraum durch das Publikum aufgeheizt ist, zieht der Rauch eben dahin. Droge
taz: Die Musik selbst benebelt ja auch. Wie gehen Sie um mit der Droge Wagner?
Das ist ein großes Problem, es liegt in der musikalischen Ästhetik selbst begründet. Wagner hatte einerseits lautere Absichten, er wollte die Leute nicht benebeln, er verlangte den denkenden, mitarbeitenden Zuschauer. Gleichzeitig war er ein so großer Meister der Manipulation und hat seine Ausdrucksmittel, vielleicht aus der Angst heraus, der Zuschauer könnte das Wesentliche versäumen, so subtil verfeinert, daß es fast unmöglich ist, sich gegen den Rausch zu stemmen. Nun muß man in der Inszenierung mit klar berechneten Aktionsformen versuchen, diesen Einschläferungs und Benebelungsprozeß zu verhindern oder wenigstens den Widerspruch zwischen Rausch und Mitarbeit zu provozieren. Wenn der Verstand nicht an der Garderobe abgegeben wird, braucht man sich vor dem Rauschhaften nicht zu fürchten.
Bei dem großen Schlußduett Brünnhilde/Siegfried „Leuchtende Liebe, lachender Tod“ - wird mir zum Beispiel vorgeworfen, das sei doch ein einziger großer Liebeshymnus. Dabei ist es eine der bösesten und bittersten Szenen überhaupt.
taz: Aber die Musik jubelt doch.
Es ist der Jubel des Abschieds. Die Musik ist da in wirklich dialektischer Weise eingesetzt. Zwei Menschen begegnen sich in absoluter Disharmonie, können sich überhaupt nicht verständigen. Ein schreiender Widerspruch: Als Siegfried Brünnhilde weckt, will er die Frau und denkt nur noch an das Eine, während sie erstmal fertigwerden muß mit dieser Realität, die so ganz anders aussieht als ihre Utopie. Und später will er nur weg und sie hängt immer noch an ihrem Plan, daß er die Welt retten könnte. Da finden ungeheure Verdrängungsprozesse statt. Wagner läßt einen unglaublichen äußereren Rausch aufblühen, daß man den Eindruck hat, die Figuren erschrecken vor ihrer eigenen Erkenntnis und flüchten, betäuben sich selber. Der denkende Zuschauer
(auf der Podiumsdiskussion): Ähnlich ist es mit dem Schluß. Wagner gibt kein Rezept für die Verbesserung der Welt. Zwar liefert er musikalisch ein ganzes Programm, indem er ganz am Ende Sieglindes Motiv der Liebe ertönen läßt, aber zum Glück tut er das nicht so platt. Vorher hatte er ja viele Schlüsse ins Auge gefaßt, alleine drei davon hat er literarisch ausgeführt. Dort gibt er immer Rezepte, ob im buddhistischen Sinne oder im Sinne Feuerbachs oder Bakunins. Zum Glück hat er das nie komponiert, das wäre deutsches Schulmeistertum geworden.
Das ist nicht für Ideologen: Brünnhilde singt von der Liebe, Sieglindes Motiv ertönt und denen, die in der Lage sind zu sehen und zu hören, bleibt die Entscheidung überlassen. Der Ring ist ein unglaubliches Menetekel, getragen von den tiefsten Zweifeln, und dennoch gibt es am Ende ein Stückchen „Prinzip Hoffnung“. Das habe ich zu inszenieren versucht, keineswegs einen optimistischen Schluß.
Es ist ähnlich wie bei der Mutter Courage, wo ja auch die Entscheidung dem Zuschauer überlassen bleibt. Als es damals in der DDR soviel Ärger gab, weil die Courage trotz allem, was sie erlebt hat, sich nicht ändern wollte und die Funktionäre sagten, das ist zu pessimistisch, hat Brecht gesagt: „Was interessiert mich die Courage, wenn der Zuschauer es nicht begreift.“ Wagner in der DDR
taz: Ist die Wagner-Rezeption in der DDR eigentlich anders verlaufen als in der BRD?
Nein. Heinrich Herz hat zwei Jahre vor Chereau in Leipzig etwas sehr Ähnliches gemacht. Die Rückbindung ans 19.Jahrhundert hat Chereau ja nicht erfunden.
taz: Aber Felsenstein hat doch nie Wagner inszeniert.
Jedenfalls nicht nach dem Krieg. Vorher schon, hinterher hat er sich gedrückt. Er spielte immer mit dem Gedanken, den Tristan zu inszenieren, aber er hat es nie verwirklicht.
taz: Sie selbst haben zwar sehr viel Wagner inszeniert, aber den „Lohengrin“ nur einmal und nie wieder. Warum?
Ich verstehe das Stück nicht. Das ist mir zu irrational. Dieser Geniekult, die Vergottung des Mannes, dieses „Nie sollst du mich befragen“, das kann ich nicht akzeptieren. Ich halte den Lohengrin für einen reaktionären Ausrutscher Wagners. Vielleicht hat das Autobiographische, dieser Gedanke vom Künstler als Sendboten, das Stück ruiniert. Dabei ist es zum Teil herrliche Musik. Elsa hat recht, aber die Sympathien liegen musikalisch bei Lohengrin. Das kann man beim besten Willen nicht weginszenieren. Intime Beziehungen
taz: Der Bayreuther „Ring“ ist Ihre 121.Opern-Inszenierung. Was bedeutet Ihnen Oper, dieses merkwürdige Phänomen, daß Leute, statt zu lieben oder zu sterben, sich hinstellen und singen?
Oper ist vielleicht die künstlichste, komplexeste, weil irrationalste Kunstform überhaupt. Das reizt mich daran. Die Spannung zwischen dem Wirklichkeitsfundament und dieser hochstilisierten, zwei Finger über dem Boden schwebenden Ausdrucksform. In der Oper kann man die wahnwitzigsten Dinge kombinieren und so die Probleme, auch politische, gesellschaftliche, viel gründlicher abhandeln. Das Spiel der Phantasie, mit dem Irrationalen ermöglicht einen viel totaleren Aufblick etwa auf das Verhältnis Individuum Gesellschaft, als es im Sprechtheater je möglich wäre. In der Oper können in einem Bild fünf verschiedene innere Handlungen parallel laufen. Wenn im Schauspiel drei Leute gleichzeitig reden, versteht man nichts mehr. In der Oper können fünf gleichzeitg singen; zwar versteht man nicht jedes Wort, aber man hört, wie die Gesangslinien geführt werden, welches Wort aus welcher Linie verständlich wird und zu einem anderen Wort aus einem anderen Satz eine Beziehung eingeht.
Nehmen Sie den Ring. Die größten Menschheitsprobleme werden in den individuellsten menschlichen Beziehungen abgehandelt. Das war mein Grundkonzept, diese Kammerspiele als Basis zu inszenieren für den Überbau der großen Weltprobleme. Der Riß durch die Welt geht durch jeden einzelnen von uns. Die Geister scheiden sich schon bei dem, was uns am unmittelbarsten bewegt. Wagner hat im Ring keine Gesellschaftsprobleme gestaltet, sondern diese ganz intimen Beziehungen. Mich hat dabei nicht die Objektivation, die Ausweitung interessiert, sondern der umgekehrte Vorgang.
Das macht auch das Realistische im hochartifiziellen Gebilde Oper aus. Und es findet sich nicht nur bei Wagner, auch bei Mozart und sogar bei Händel. Oder nehmen Sie die vielgeschmähten italienischen Operntableaus. Es ist unglaublich: Ein Bild, ein einziges Ensemble nur stellt das Verhältnis Individuum - Gesellschaft klar vor Augen. Es steht einfach da und singt miteinander.
Zwei Bücher sind in diesen Tagen zu Harry Kupfer erschienen. Eines in der DDR: Dieter Kranz, Ich muß Oper machen - Der Regisseur Harry Kupfer. Kritiken, Beschreibungen, Gespräche. Mit Fotos und Inszenierungsverzeichnis, Henschelverlag Berlin 1988, 311 S., 24,10 DM.
Eines in Wien: Michael Lewin, Harry Kupfer, Zehn Gespräche, Dokumentation, Szenographie, vorzüglicher Anhang. Mit einem Vorwort von Hans Mayer, Europa Verlag 1988, 471 S., viele schöne Probenfotos, 39,90 DM.
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