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Bekenntnisse eines Süchtigen

■ Die neue Tanzmusik: Chicago House, Latin House, Acid House, Techno Sound, DJ-Cuts, Record Art. Eine komplette Musikgeschichte in 358 Zeilen.

Thomas Böhm

Wenn Musik gehaßt wird, ist das ein untrügliches Zeichen für Veränderung. Die Hippies haben den Rock'n Roll gehaßt, die Punks die Hippiemusik, und jetzt hassen Punks und Undergrounds Die neue Tanzmusik. Haß ist Ausdruck von Hilflosigkeit, Angst oder Unkenntnis. Die härteste Form der Ablehnung. Alle (10) Jahre wieder dieselben Sprüche: Die Musik ist primitiv, das hört sich ja alles gleich an an, das ist doch keine richtige Musik. Haß ist mir in den letzten Monaten in Clubs, auf Partys und privat des öfteren begegnet. Meine Kassetten mit der neuen Tanzmusik wurden aus Recordern gerissen, zersägt, gekocht und mir um den Hals gewickelt. Natürlich hat die neue Tanzmusik auch Freunde und Anhänger; Menschen, bei denen der Knoten im Gehirn geplatzt ist und sich der Ischiasnerv wieder entkrampft hat, Menschen, die sich der neuen Tanzmusik mit Haut und Haaren hingeben können.

Die neue Tanzmusik ist nicht die Fanfare einer neuen Jugendrevolte oder der musikalische Ausdruck einer aufkeimenden Unzufriedenheit und Wut. Die neue Tanzmusik ist purer Spaß, wird von keinem Inhalt behindert und keiner Ideologie gerahmt. Das einzig Revolutionäre an ihr ist die Herstellung und die Ignoranz gegenüber antiquierten Werten wie „handwerkliches Können“ und „geistiges Eigentum“. Das hat sie mit dem Punk gleich: Sie ist simpel und machbar. Das unterscheidet sie vom Punk: Sie ist überwiegend maschinell.

Die neue Tanzmusik kennt, im Gegensatz zum Hip Hop, der schwarzes Selbstbewußtsein vermittelt und von Personen und Posen lebt, keine Helden, kaum Namen und Charaktere. Die Macher der neuen Tanzmusik bleiben im Dunkel der Studios oder arbeiten in den flackernden Aufenthaltsräumen der Nacht und verabreichen ihren Stoff hinter Kanzeln verborgen und auf unerreichbar hohen Podesten verschanzt. Nur noch das Produkt zählt. Die Leute wollen sich darauf konzentrieren, denn die neue Tanzmusik muß, wie der Name schon sagt, ertanzt werden. Zur Berieselung - während der Küchenarbeit oder als Background bei Gesprächen - ist sie gänzlich ungeeignet.

Tanzmusik hat es schon immer gegeben. Aber noch nie war sie so gnadenlos schnell, brutal, hart, so unterleibsfixiert, so chemisch und monoton und deshalb so wirkungsvoll. Keine Chance für Kiffer, die beim Tanzen wie Kaugummi umherziehen und keine Chance für blindwütig spuckende Pogos und gruftige Leidensgenossen, die ihre brennende Seele mit Dosenbier und Wodka löschen. Denkbar ungeeignet auch für melancholische Gitarrenfreaks, die sich unlösbar zwischen ihren Saiten verheddert haben.

Die neue Tanzmusik erfordert Kondition, Kraft und Gefühl, auf sportlicher Basis oder mit Hilfe von Speed, Koks und Ecstasy. Owohl einige der härtesten TänzerInnen LSD wiederentdeckt haben, kann man noch nicht von einer Rückkehr der Hippiekultur sprechen; das einzige, was an damals erinnert, ist der Chemieschiß. LSD wird mit der neuen Tanzmusik nicht zur Bewußtseinserweiterung und optischen Täuschung eingesetzt, sondern als Sprengladung benutzt, um die physischen Grenzen zu eliminieren. Der Beat bestimmt das Bewußtsein.

Die neue Tanzmusik ist ein fröhliches Mit-, Gegen- und Voneinander schneeweißer und rabenschwarzer Musikgeschichten. Sie hat viele Namen, manche haben eine Bedeutung, andere sind aus marktstrategischen Gründen gehypt, und sie hat viele Varianten.

Der Ursprung der neuen Tanzmusik trägt kein genaues Datum und ist auch von niemandem erfunden worden.

Die neue Tanzmusik ist: Chicago House, der reine, der urbane House-Sound. Der Name stammt von einem Lagerschuppen, dem Warehouse in Chicago. Hier fanden schon zu Beginn der 80er Jahre herrliche Discoorgien statt. Schwule, schwarze Discjockeys trieben schwule schwarze Tänzer in rhythmische Raserei (tun sie noch). Das Fundament des House-Sounds, der hier produziert wurde, ist eine glückliche Mischung aus dem High-Energy-Sound der 70er Jahre (als Discomusik noch als Abfall der Soul-Musik behandelt wurde) und dem aktuellen Eurobeat, der seine Wurzeln wiederum in der technisch -musikalischen Innovation von Bands wie Kraftwerk, DAF, Yello hat. Doch die schwulen, schwarzen DJs füllten den Sound mit eigenen Ideen, indem sie zur Schallplatten-Musik eine Rhythmus-Maschine (Beat Box) mitlaufen ließen oder die Geräusche einer Eisenbahn und anderer Verkehrsmittel reinmixten. So entstand Nacht für Nacht ein gänzlich neuer Sound. Von den fanatischen Tänzern angefeuert, fanden die DJs immer mehr Gefallen an der neuen Musik, gingen ins Studio und produzierten die ersten House-Scheiben. In Unkenntnis der Produktionsverhältnisse ignorierten sie die herkömmlichen Aufnahmemethoden und sorgten für ein neues Mischverhältnis: Die Beat Box rangierte zum Mittelpunkt des Geschehens, irgendwo tönte bescheiden eine Melodie, das war aber schon alles. Das machte (und macht) aber auch den einzigartigen Charme dieser Musik aus. Die Schwarzen hauchten ihre Seele in die Elektrotechnik.

House-Musik ist mit rund 120 beat per minute (bpm) ziemlich schnell, doppelt so schnell wie Hip Hop (es sei denn, dieser kommt aus Miami) und hypnotisiert durch seinen durchgängigen Rhythmus. House-Sound treibt die Tänzer deshalb in Ekstase, weil sie ständig das Gefühl haben, gleich zu kommen. So winden und schrauben sie sich auf der Tanzfläche in einen Rausch und beruhigen sich meist erst in den frühen Morgenstunden.

House machte schnell seine Runden. Vor zwei Jahren jackten die ersten klassischen House-Scheiben von Farley Jackmaster Funk und dem Duo J.M.Silk in die europäischen Charts, allerdings noch ohne Trendeffekt. In New York entstand um den Paradise-Garage-Club eine eigene Szene. In anderen Städten mischten heißblütige Südländer Temperament ins House und nannten es Latin House. Die abgefahrenste Variante ist Acid House. Hier wird gänzlich auf Melodie und Gesang verzichtet. Der psychedelische Knaller wird durch ein gemeines elektronisches Gefiepe und den furztrockenen Beat verursacht. In Detroit hat man für den House-Sound, wohl durch die spezielle industrielle Atmosphäre, einen neuen Namen gefunden. Der „Techno-Sound“ ist tatsächlich etwas knackiger und härter als der Chicago-Sound und im Gegensatz zu den Kollegen aus der Windy-City streiten die Detroiter jegliche Verbindung mit der Soultradition ab.

Die neue Tanzmusik sind DJ-Cuts. Klar, daß die Engländer hier in Europa als erstes auf die House-Musik aufmerksam wurden und sie über den Teich holten. Nur, die reine House-Musik war ihnen zu dilettantisch. Denn um einen richtigen Hit zu landen - und um nichts anderes geht es den Engländern - braucht man eine bessere Produktion. Also stürmte eine frische Generation englischer DJs in die Studios und nahm sich den House-Beat zur Brust. Danach war alles anders. Die Engländer gaben der Melodie wieder eine Chance, benutzten die Sample- Technik des Hip Hop, um ihre „Songs“ mit allerlei Effekten zu befrachten und schufen so einen Crossover zwischen den in Amerika ziemlich verfeindeten Hip Hop- und House-Szenen.

Mittlerweile gehören den englischen Discjockeys die obersten Plätze der Hitparade; auch, weil sie „vorhandene“ Hits der Pop-Musik als House-Remix wieder auf den Markt schicken. Selbst die in London schwer angesagten Acid-House -Fetzer geraten unter den Fingern britischer DJ-Produzenten zu Glanz und Gloria.

Die neue Tanzmusik ist Record Art. Auch in Deutschland haben sich die Discjockeys aus dem Joch der bloßen Plattenlegerei befreit. Das ist nicht zuletzt der Verdienst des Berliner DJ-Meisters Westbam, der sich schon vor Jahren für die Emanzipation der DJs gegenüber den Originalen, sprich Schallplatten, stark machte und mit seiner Record Art einen Namen für seine eigenwillige Mix-Kunst fand. Westbam verwendet ausschließlich fremde Platten, die er wie Legosteine zu einem neuen Klanggebilde zusammensetzt und dadurch einen völlig anderen Song komponiert. In der Malerei nennt man das Collagenkunst. Beim Hip Hop, bei den DJ-Cuts oder der Record Art nennen Außenstehende das Diebstahl. Dabei hat die Respektlosigkeit der neuen Generation gegenüber der vorgefundenen Musik etwas Positives: Die alte Musik wird nicht mehr in Grund und Boden verflucht, sondern teilweise original verwendet, neu überarbeitet oder mit anderen schönen Dingen vermischt.

Die neue Tanzmusik ist Electronic Body Music. Das allerdings ist nur ein neuer, trendgerechter Name für eine ältere Sache, die als Industrial- oder Underground-Disco schon seit längerem in der Szene herumtobt. EBM als technologisierter Punkt ist die einzige Verbindung zwischen damals und heute. Die Finsternis hat einen neuen Drive.

Die neue Tanzmusik sind Ethno-Beats. Ethno-Beat ist, wenn man Klänge aus allen Teilen der Welt digitalisiert. In den 70er Jahren wurden sie schon von Typen wie David Byrne, Brian Eno und Holger Czuckay vorgeführt, allerdings noch ohne die technische Durchschlagskraft. Heute sind die Ethno -Beats die erfolgreichste Art der neuen Tanzmusik.

Die Liste ist zu ergänzen. Rare Groove, Balearic Disco, Bundu Disco - jeder kriegt den Rhythmus und das Tempo, das er braucht, nur das Gefühl ist überall das gleiche. Und wann kriegst du deinen Arsch hoch?

Plattentips:

The History of the House Sound of Chicaco (BCM)

Ein 120 Songs umfassender Karton, der die Geschichte des House-Sounds von den Anfängen bis zur aktuellen Entwicklung großzügig dokumentiert

Techno - The New Dance Sound of Detroit (Virgin)

Do-LP, Sampler der neuen trockenen Szene aus der Automobilstadt

Electronic Body Music (SPV)

Von der Plattenfirma auf die eigenen Acts reduzierter Sampler mit Bands wie Front 242, Cassandra Complex und Chris And Cosey

Revolting Cocks „You Goddamned Son of a Bitch“ (EFA)

Live-Doppel-LP mit gemeinster Industrial-Disco

Etno Beats - Rhythms... from the Jungle and the Deserts to the Dance Floor...“ (BCM)

Sampler-Do-LP asiatischer und afrikanischer Tanzmusik aus der Sicht nordeuropäischer Computer, eine Seite ist aber ziemlich gut

Westbam „Disco Deutschland“ Low Spirit

Der Stalingrad And Back Mix, Schnellkurs in deutscher Geschichte, das Erzähltempo liegt bei 110 bpm, Hitler, Thomas Mann, Winston Churchill unterhalten sich mit Yello, Daryl Pandy und Afrika Bambaataa)

S-Express „Superfly Guy“ (RTD)

The Fluffy Bagel Mix, Maxi des wichtigsten Exponenten der englischen DJ-Cut-Szene

Baby Ford „Oochy Koochy“ (RTD)

Maxi, Acid House wird kommerziell

T-Coy „I Like to Listen“ (Teldec)

Maxi, Exponent des Latin-House

Mory Kante „Ye Ke Ye Ke“ (Metronome)

Maxi, The Martin Young Remix, Worldmusik aus der Sicht eines acidabhängigen Discoproduzenten

Meine Lieblings-House-Scheiben:

Max Thornhill „Who's Gonna Ease the Pressure“ (Virgin)

Mark Imperial „The Love I Lost) House Nation)

Block (Vinyl Solution)

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