: Die Kehrseite des Exils
■ In der gestrigen taz gab Leszek Kolakowski seine Ansicht des Exils. Heute folgt die Mario Benedettis, eines auch bei uns vielgelesenen, exilerfahrenen Autors aus Uruguay
Mario Benedetti
Den Aufruhr meiner Gefühle, als ich nach zwölf Jahren aufgezwungenen Exils nach Uruguay zurückkehren konnte, habe ich in einem früheren Brief beschrieben. Schon zwei Monate später durfte ich etwas erleben, das vielleicht weniger mit Emotionen beladen, jedoch sicher ebenso wichtig war: zum ersten Mal verließ ich mein Land nicht als politisch Exilierter, sondern als normaler Bürger, der ins Ausland reist.
Da die demokratischen Organe, die Normen und Sicherheiten, in Uruguay wiederhergestellt sind, existiert für uns natürlich die Kategorie des politisch Exilierten nicht mehr. Eventuelle Abweichungen von der Regierungsmeinung werden nicht mehr unbedingt mit Gefängnis und Exil bestraft. Das ändert nichts daran, daß immer noch Hunderttausende von Landsleuten in der weiten Welt verstreut sind, ehemals Exilierte, deren Lebensweg sicherlich anders verlaufen wäre ohne das lange Jahrzehnt des autoritären Regimes.
Ab jetzt und hoffentlich für immer sind die Uruguayer, die in anderen Ländern leben oder ins Ausland reisen, einfache Reisende. In jedem Fall aber sind sie freiwillig gegangen und wurden nicht dazu gezwungen. Auf den ersten Blick ist der Unterschied nur eine Angelegenheit von Reisepapieren, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen und anderen bürokratischen Kleinigkeiten. Es geht aber um Wichtigeres: die Gemütsverfassung dieser Menschen, ihre Umgebung und die Beziehungen, die sie sich aufgebaut haben oder noch aufbauen.
Ein politisch Exilierter ist jemand, der kein Land hat, das ihm bei seiner Arbeit wie auch in seiner nationalen Identität Rückendeckung gibt. Es ist jemand, der dank (wohlwollender, geringer oder ausreichender) Bereitschaft einiger Regierungen, häufiger noch dank der Solidarität normaler Leute Unterstützung, Nahrung und Unterkunft erhält. Noch im besten Fall gehört zum Leben des politisch Exilierten, neben dem nicht zu messenden Leid der Trennung, neben dem Heimweh und den Frustrationen, die prinzipielle Unsicherheit seiner Existenz. Ein Exilierter ist nie sicher: Jederzeit kann eine unvorhergesehene Verordnung erlassen werden, die ihn auf die Straße oder an die Grenze setzt. Und die ausweisenden Regierungen brauchen keine Sanktionen zu fürchten - sie wissen, daß die Vertriebenen in kein anderes Land ausweichen können.
Natürlich gibt es noch andere Schwierigkeiten. Sogar in Spanien ist der lateinamerikanische Akzent fast immer eine Hürde. Ich weiß von vielen Argentiniern, Chilenen, Uruguayern, daß sie sich fleißig bemüht haben, ihren ursprünglichen Akzent zu verlieren. Sonst hätten sich die üblichen Schwierigkeiten vervielfacht, bis hin zur gänzlichen Unmöglichkeit, Arbeit zu bekommen. Nicht zu reden von den Schauspielern: für das spanische Publikum oder zumindest für die Produzenten ist es unannehmbar, daß ein Schauspieler oder eine Schauspielerin auf der Bühne nicht einen der vielen Akzente Spaniens haben.
Der politisch Exilierte hat manchmal das Gefühl, in der Luft zu hängen: ohne Gesetze zu seinem Schutz, ohne gesicherte medizinische Betreuung, ohne Altersversorgung. Bei Millionen von Arbeitslosen in allen Ländern Westeuropas (in Osteuropa scheint es keine Arbeitslosigkeit zu geben) mag es bis zu einem gewissen Grad erklärlich sein, daß die Regierungen einschneidende Maßnahmen ergreifen: die Exilierten sollen das Problem nicht noch verschärfen. Man muß hier jedoch auf den Unterschied zwischen einem einheimischen und einem ausländischen Arbeitslosen hinweisen: der eine erhält im allgemeinen natürlich Arbeitslosenunterstützung, während der andere fast immer völlig mittellos dasteht, außer er vermochte sich einzubürgern. In dieser Hinsicht ist Schweden möglicherweise die löbliche Ausnahme in Europa, zum Teil vielleicht, weil seine Arbeitslosenrate nicht so hoch ist. Es hat den Exil -Lateinamerikanern die Eingliederung ins Arbeitsleben ermöglicht, ihnen Studienmöglichkeiten eröffnet und Wohnraum zur Verfügung gestellt.
In den letzten Wochen konnte ich mit einigen südamerikanischen Exilierten sprechen, die in ihre Länder zurückkehrten und dann wieder gegangen sind, weil sie im Ausland studieren oder arbeiten wollten. Alle stimmten darin überein, daß sowohl ihre Stimmung wie auch ihre Beziehung zur Umgebung im Ausland bemerkenswerte Veränderungen durchgemacht haben. Es macht einen Unterschied, ob man aufgrund einer persönlichen Entscheidung - eines Studiums oder einer Stelle wegen - oder unvermutet als Asylsuchender in ein Land kommt.
Weder die Haltung des Ankömmlings noch die des Aufnehmenden werden die gleichen sein. Der ehemalige Exilierte kann sich heute sicherer und sogar offener bewegen; er ist kein internationaler Paria, fast Staatenloser mehr, dessen Leben größtenteils von Verständnis und Hilfsbereitschaft, ja sogar Mitleid der ihn Aufnehmenden abhängt. Jetzt ist er jemand, der von einem Land gestützt wird, der es nicht mehr nötig haben wird, einen Akzent vorzutäuschen. Er ist jederzeit in der Lage, seine Identität und Nationalität zu behaupten. Auch die Einstellung der Umwelt wird respektvoller und aufnahmefreundlicher sein.
Ob definitive Rückkehr oder nicht, die ehemals Exilierten betrachten ihre Umgebung heute mit anderen Augen. Ihr eigenes Land mag weit weg sein, oft liegt ein Ozean dazwischen. Aber es ist ein Land, das sie nicht nur mit seiner Geschichte und seiner Kultur begleitet, sondern das ihnen mit Ausweispapieren, seinen Konsulaten und Botschaften, mit der Geborgenheit in einer Gesellschaft Geleitschutz gibt.
An einem 19. Juni, dem Geburtsdatum von Artigas (Jose Gervasio Artigas (1764-1850) kämpfte gegen Spanier und Portugiesen um ein unabhängiges Lateinamerika. Der Nationalheld Uruguays), rief die uruguayische Botschaft in Madrid nach zwölf Jahren zum ersten Mal alle Landsleute zusammen, die noch in der spanischen Hauptstadt wohnten. Es war der erste 19. Juni der wiedererlangten Demokratie. Einige Teilnehmer erzählten mir, wie seltsam sie sich gefühlt hätten (ich war nicht da, aber ich weiß, ich hätte mich genauso gefühlt), als sie nach zwölf Jahren zum ersten Mal über die Schwelle traten, die ja immerhin zum diplomatischen Sitz unseres Landes führt. Warum hätten wir vor dem ersten März 1985 auch hingehen sollen? Um die dort schon überquellende Kartei von Unerwünschten zu füllen?
Natürlich ist die Wiedereinführung der Demokratie in unserem Land von elementarer Bedeutung für die Bewohner Uruguays; für diejenigen jedoch, die in anderen Ländern leben oder einfach ins Ausland reisen, hat die wiedererlangte Demokratie noch eine ganz andere Bedeutung. Jetzt fährt Uruguay mit und nicht gegen die Reisenden, und wir stellen fest: eine äußerst erwünschte, eine notwendige Begleitung.
Gekürzt aus 'La Jornada‘. Übersetzung aus dem Spanischen: Elke Krüge
Von Mario Benedetti ist zur Zeit auf deutsch lieferbar:
Frühling im Schatten, Peter Hammer-Verlag, 16,80 DM
Die Gnadenfrist, Lamuv-Verlag, 32,- DM
Literatur und Revolution, Rotpunkt Verlag, 18,80 DM
Die Sterne und Du, Peter Hammer Verlag, 16,80 DM
Verteidigung der Freude, Cron Verlag, 16,- DM
Dank für das Feuer, Rotpunkt Verlag, 26,- DM
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