: Aus Maisbrei und Joghurt den neuen Menschen formen
■ Rumänien hungert und zittert vor dem Conducator - die Kirche betet / Ceausescu will sein Reich umorganisieren / Können nur Benzin- und Zementmangel die Planierraupen aufhalten? / Bonn verhandelt über Kopfgelder für Rumänien-Deutsche
Petra Bornhöft
Petra Bornhöft
An der Grenze zum sozialistischen Bruderland Ungarn läßt Ceausescu seine Soldaten auf Flüchtlinge schießen. Das weiß in Siebenbürgen jeder. Deshalb war Frau M. glücklich, als sie vor drei Wochen die Nachricht erhielt, ihr Sohn sei im Gefängnis. Michael, 21 Jahre jung, war eines Abends nicht von der Arbeit zurückgekehrt. Da ahnten seine Eltern, daß er versucht hatte, dem Reich des Conducators zu entfliehen. Täglich, und lange bevor die Pläne zur Vernichtung von 8.000 der 13.000 Dörfer in der Parteipresse als „Agrarprogramm“ propagiert wurden, laufen Angehörige aller Nationalitäten auf die grünen Grenzen zu. Die wenigsten kommen durch. „Jetzt gilt Michael als Landesverräter und muß vor das Militärgericht. Fünf Monate bis eineinhalb Jahre Gefängnis. Seine schöne Arbeit wird er auch verlieren“, sagt Frau M.
Aus dem Spiegelschrank neben der Fototapete, auf der die Alpensonne über einem güldenen Herbstwald glüht, holt Frau M. einen Briefumschlag und fingert einige Fotos heraus. Der Junge in der schwarz-weißen Tracht der Siebenbürger Sachsen
-„Wissen Sie, der Trachtenball einmal im Jahr ist das schönste Ereignis bei uns im Dorf“ - hat dichtes, schwarzes Haar. Liebevoll streicht Frau M. über das Bild. „Wird das Haar je wieder wachsen. Dort werden ja alle rasiert. Wenn sie ihn bloß nicht zu stark geschlagen haben.“
Plötzlich hebt die rundliche Mittfünfzigerin den Kopf und richtet einen flehentlichen Blick auf die Besucherin: „Bitte, erwähnen Sie keine Namen. Wir dürfen nicht mit Ausländern reden. Seit sieben Jahren warten wir auf den Paß für die Ausreise. Die Securitate erfährt alles.“ Bleierne Angst vor der Geheimpolizei, dem „Skelett der rumänischen Gesellschaft“, wie sie der Exil-Schriftsteller Richard Wagner nennt, steuert das (Über-)Leben im Lande des Tyrannen. Niemand, der nicht fürchtete durch die verbotenen Gespräche und Gastfreundschaft den „Ausreiseantrag zu gefährden“, „eingesperrt“ zu werden oder zu „verschwinden“.
Das Idyll aus
Opas Lesebuch
Irgendwo im Hochland am Fuß der Karpaten liegt das Dorf der Familie M. Seine Geschichte reicht 800 Jahre zurück, als deutsche Wehrsiedler aus dem Rhein-Mosel-Gebiet sich in Siebenbürgen niederließen. Beeindruckt von den klotzigen, zum Teil kürzlich renovierten Kirchenburgen, die Einfälle der Tataren und Türken überstanden, schwärmt die 'Süddeutsche Zeitung‘ von einem „nahezu unverfälschten Mittelalter“. Der 'Spiegel‘ entdeckte in dieser Region „eine Idylle wie aus Opas Lesebuch“. Mir ist das entgangen. Aber Siebenbürgen ist groß und nachts kohlschwarz, weil der Führer die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet hat und über weite Strecken die gekalkten Straßenbäume für den Export abholzen ließ.
Es gilt als „deutsch“, das Dorf der Familie M., obgleich mittlerweile zu über 70 Prozent von Rumänen bewohnt. Nur die Namen an den Giebeln der grünen, zum Teil vernagelten Bauernhäuser zeugen von anderen Mehrheiten. „Was Du ererbt von Deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“, steht an einem Haus, dessen Inhaber auf den Paß wartet. Während er eine magere Kuh am Straßenrand grasen läßt, sagt er mit leiser Stimme: „85 Prozent der Deutschen haben eingereicht. Aber ein um den anderen Tag vergeht und wir auch.“ Als ein Trupp Soldaten um die Ecke an der Kirchenburg biegt, dreht der Mann sich rasch um und zieht die Kuh fort. Im Gleichschritt marschieren die Soldaten an der Bushaltestelle vor dem vergitterten „Alimente„-Laden vorbei. Dort warten ärmlichst gekleidete Menschen auf den Bus. Schweigend. Regungslos hockt ein Bauer, den schwarzen Filztopf tief in die Stirn gezogen, auf seinem Pferdewagen. Rumpelnd zieht das mit Maisstroh beladene Gespann durch die Pfützen der Hauptstraße. Beiderseits versperren große Holztore und lückenlose Betonmauern den Blick in die üppigen Gärten zwischen den Parterrehäusern.
„Nur mit Paß oder tot
gehe ich“
Bei Familie M. bewacht ein überdimensionaler Gartenzwerg Wein, Kartoffeln, Kohl und Tomaten. Daß eine Wühlmaus sich durch den ordentlich gestutzen Rasen bis zum staubfreien Plattenweg buddelt, ärgert Frau M. ungemein. Im kleinen Schuppen, Arbeitsplatz der Heimarbeiterin und „Sommerküche“ zugleich, kocht sie Blümchenkaffee für den Besuch und stellt im Wohnzimmer das Blümchen-Porzellan auf den Tisch. „Seien Sie bitte vorsichtig, das will ich mitnehmen.“ Etwas verlegen serviert Frau M. einen großen Teller Schmalzbrote, Butter habe sie zuletzt vor fünf Jahren gesehen.
„Damals haben wir einfach, aber glücklich und zufrieden gelebt“, erinnert sich die Rumänien-Deutsche an eine Zeit, in der die Versorgungslage besser war und die Partei den nationalen Minderheiten relative kulturelle Autonomie gewährte. Jetzt sei es „nicht mehr zum Aushalten“. Weil Nachbarn und Freunde wegzogen, ging die deutsche Schule fast ein. Freiwerdende Lehrerstellen besetzen die Behörden gezielt mit Rumänen. In den deutschsprachigen Zeitungen steht Ceausescu, Ceausescu, Ceausescu. Bei Ausbildungs- und Studienplätzen werden Rumänen bevorzugt. In die verlassenen Häuser der Auswanderer ziehen Rumänen.
Parallel zum radikalen Chauvinismus des Conducators pflegen die unterdrückten Minoritäten ihren traditionellen Nationalismus, „ohne den wir nicht 800 Jahre überlebt hätten“, sagt eine junge Nachbarin von Frau M. „Wir haben nichts gegen Rumänen, aber wir sind Deutsche, sauber und fleißig. Man hat Angst Rumäne zu werden.“
In Deutschland, wo der Neffe Hans Arbeit, Auto und ein neues Haus besitzt, sehen die meisten ihre Zukunft, ob der Heimatort nun in die Kategorie „Dorf ohne Aussicht auf Entwicklung“ eingestuft wird oder nicht. Bisher ist die Zwangsumsiedelung ein Gerücht. „Was soll man machen?“, fragt Frau M. kopfschüttelnd. Sie überlegt zwei Sekunden, streicht die Tischdecke glatt. „Uns schiebt kein Bulldozer in die Stadt. Ich gehe hier nur raus mit einem Paß oder tot.“
Dichtung und
ein bißchen Wahrheit
Wann die Planierraupen kommen und wo sie bereits Häuser oder ganze Dörfer niedergewalzt haben, weiß niemand. Ein Mitglied der Nationalversammlung behauptet: „In Siebenbürgen ist kein einziges Dorf bisher zerstört worden. Wir wissen wohl von zwei Versuchen in Oltenien, südlich von Bukarest. Dort hat man die Häuser beiderseits der Hauptstraßen abgerissen und neue Wohnblocks errichtet. Die Randbezirke der Städte werden seit Jahren saniert“. Die große „Systematisierung“, das heißt die komplette Umorganisierung von Rumäniens Siedlungsstruktur befinde sich noch in der „Planungsphase“. Gleichwohl räumt der Mann ein, daß seit April die Ingenieure der „Systematisierungsbüros“ in zahlreiche Dörfer ausgeschwärmt seien und durch ihre Vermessungsarbeiten „unter den Bauern Panik ausgelöst haben“.
Glaubt man den Berichten westdeutscher Zeitungen, dann haben die Behörden Ende August eine Liste von 700 Ortschaften unter tausend Einwohnern selektiert, die bis 1990 eingeebnet werden sollen. An ihre Stelle sollen „agroindustrielle Zentren“ mit Wohnsilos treten.
Verteilt über das ganze Land will Ceausescu die „wahre Gleichheit aller Werktätigen unabhängig von der Nationalität“ herstellen. Das ist spätestens seit 1978 bekannt. Schon damals hieß es in einem rumänischen Nachschlagewerk über die „territoriale Systematisierung“: „In dieser Hinsicht ist die dichtere Bebauung des Siedlungsbereiches und die Rückgewinnung von Bodenflächen vorgesehen. Was die Dörfer betrifft, wird langfristig eine Konzentration der Landbevölkerung in größeren Siedlungen stattfinden, was die stufenweise Einebnung der kleinen und sehr kleinen Dörfer gestatten wird.“ Real werden die Bulldozer drei Prozent mehr an Ackerbaufläche für die einstige Kornkammer des Balkans planieren.
Obgleich niemand einen genauen Überblick über den Stand des gigantischen Vernichtungsprogrammes geben kann, sichten bundesdeutsche Korrespondenten von Agenturen und Zeitungen „geschleifte Dörfer“. Am 25. Juli veröffentlichte 'dpa‘ eine Liste von „deutschen Dörfern“ in Siebenbürgen, in denen „die Bulldozer bereits aufgefahren sind“. Augenscheinlich stimmt es nicht oder nur zum Teil. Kurz darauf, am 13.August, titelte die 'Süddeutsche Zeitung‘: „Deutsche Dörfer sollen sterben.“ Der in dem Artikel erwähnte Ort Gottlob, werde nicht zerstört, dementierte die rumänische Agentur 'Agerpress‘ einige Tage später. Bescheiden aber entschieden vermeldete die taz am 16.August das ungarische Dorf Ditro sei „als erstes gefallen“. Dagegen entdeckte der 'Spiegel‘ vergangene Woche serienweise „Tatsachen“: Die „Dörfer der Walachei längs der Grenze nach Bulgarien, die als erste niedergewalzt wurden“. Ohne sich bei Details aufzuhalten, hebt der Reporter den „Unterschied“ hervor: „In der Walachei sterben Dörfer, in Siebenbürgen eine 800jährige Kultur.“
Die Dörfer der Zukunft
Zu den Ortschaften mit Überlebenschance in Siebenbürgen gehört Copsa Mica. Kilometerweit vorher tauchen weiße Rauchschwaden den Landstrich in eine ungefilterte Chemiewolke. Links der Straße, unmittelbar hinter den Wäscheleinen mit grauen Bettlaken, riesige Fabrikanlagen. Aus mehreren Schloten qualmt weißer, schwarzer und rostbrauner Rauch. Zentimeterdicker (Kohlen-?)staub liegt auf den Häusern, in deren Vorgärten anthrazitfarbene Maiskolben gedeihen. Zum Schutz vor dem beißenden Gestank drücken sich Kinder und Erwachsene Taschentücher vor die Nase. Der Rumäne, den gerade ein Hustenanfall vornüber gedrückt hat, winkt ab. Wir können uns nicht verständigen. Nur ein Herr im Nadelstreif spricht einige Brocken Englisch. Sagt etwas von Schwermetallen, Chemie, Gummi und Methangas. Was in Copsa Mica auch produziert werden mag, nichts wie weg. Im Hals würgt das Frühstück. Noch fünfzehn Autominuten hinter dieser Giftburg ragen die toten, pechschwarzen Pappeln in die Höhe. Als sei ein Flächenbrand über die Landschaft gejagt.
Direkt in der Wind- und Staubfahne von Copsa Mica gelegen, empfängt die dunkle Stadt Medias die Besucherin mit der Parole: „Es lebe und erblühe unser Vaterland, die sozialistische Republik Rumänien.“ Nur mit Mühe kann ich das Kotzen unterdrücken. Am Auto kleben hagere Kinder und betteln die Fremden um Kaugummi, Bonbons, Zigaretten und Kugelschreiber an. Durch das geöffnete Fenster greift ein Arm ins Wageninnere. Fast weinend berührt der Junge einen aus Ungarn mitgebrachten Wurstzipfel.
„Kinder sind der Frühling unseres Volkes. Sie stellen den Kommunismus dar“, befand Ceausescu im Mai 1986 und verordnete den zu Gebärmaschinen und Arbeitspferden degradierten Frauen als Plansoll die Produktion von mindestens drei bis vier Kindern. In Copsa Mica und Medias werden 24 Prozent des „Frühlings“ mit Herzfehlern geboren. Ein Arbeitsplatz in der lokalen Glasfabrik ist den Jugendlichen dennoch sicher. Der Bleigehalt in Luft, Boden und Wasser von Medias sei unübertroffen in Europa, erzählt jemand. Was in dem zuweilen schäumenden Leitungswasser aus dem Fluß von Copsa Mica in die Kochtöpfe der Region spült, wen kümmert's? Den Conducator nicht. Er lehnte ein französisches Angebot zum Einbau von Filtern in der Fabrik ab. „Die moderne Industrie fordert Menschenleben“, kolportiert eine Intellektuelle Ceausescus mörderischen Zynismus.
Die „Unterkünfte der
Zukunft“
Copsa Mica fehlt ein wichtiges Merkmal der angestrebten Zukunft: die sechs- und mehrgeschossigen Wohnblocks. In X -Dorf zum Beispiel wird seit zwei Jahren abgerissen und gebaut. An den vier Blocks im Rohbau klaffen Riesenlücken zwischen den Nahtstellen der Fertigbauteile. Angeblich sind die Bauarbeiter gehalten, in die Löcher Lappen zu stopfen. Nicht nur Zement ist knapp. Den Tischlern fehlt das Holz, den Elektrikern der Draht. Und allen die Arbeitsmoral und der Sinn fürs Volkseigentum. Darin jedenfalls sieht die Kreis-Parteizeitung 'Die Woche‘ den Grund, warum „die Belegschaft des Bau- und Montageunternehmens IACM (bis Ende August) 110 Wohnungen schuldig blieb“ im Kreis Sibiu (Hermannstadt). In dem Mangel an Baumaterial und Benzin sehen Fachleute das einzige Hindernis für Ceausescus Bulldozer-Wahn.
Viele Bewohner des einst selbständigen Dorfes X-Dorf am Rande einer Mittelstadt wurden ungefragt in die Blocks eines nahegelegenen Stadtteils umgesiedelt. Dort präsentieren sich baum- und strauchlose Freiflächen zwischen den Klötzen bestens kontrollierbar. Auf dem menschenleeren Morast von der Größe eines Fußballfeldes stehen drei rostige Müllcontainer. Anders als im Stadtzentrum bewegen sich hier kaum Menschen auf der Straße. „Es gibt hier nichts, wofür man Schlange stehen könnte“, erklärt Arbeiter Adolf X. aus Block C, Appartement 227.
Zwei Zimmer bewohnt er, gemeinsam mit den beiden Kindern, Frau und Schwiegereltern in der dritten Etage. Mit Wasserleitung und Heizung - ein Luxus, der in den oberen Stockwerken und in älteren Häusern oft fehlt. „Aber das ist auch egal, einmal hast Du keine Heizung, einmal hast Du kein Wasser“, sagt Adolf X., während er in der Küche die zweijährige Monika füttert. Dieser Raum soll in den Unterkünften der Zukunft nicht vorhanden sein. Der neue Mensch nach dem Muster Ceausescus ißt Maisbrei mit Joghurt oder, am Nationalfeiertag, Schweinefüße in der Volksküche und kackt danach kollektiv ins Gemeinschaftsklo. Das reduziert den Wohnraummangel und erleichtert die Überwachung, die jetzt noch dem Blockwart oder „responsable“ obliegt.
Er wohnt eine Etage höher. Weil die Wände dünn sind, senkt Adolf X. merklich die Stimme, als er von der letzten Hausdurchsuchung bei einem Arbeitskollegen erzählt. „Wir sahen einen Videofilm. Da standen plötzlich drei Männer und eine Frau in der Tür. Sie suchten nach politischen Cassetten.“ Das war kurz nach der Arbeiterdemonstration in Brasov (Kronstadt) im November letzten Jahres, in deren Verlauf die Teilnehmer die gefüllten Parteiläden plünderten. Von den 300 Verhafteten sitzt immer noch eine unbekannte Zahl im Gefängnis. „Der Streik hat nichts verbessert. Wer weiß, ob die Verhafteten jemals wieder auftauchen. Deshalb schweigen alle“, beschreibt Adolf X. die Stimmung unter den Rumänen in seinem Betrieb. Er selbst hat „Angst, niemals nach Deutschland zu kommen, wenn ich hier was anfange“.
Der letzte Puffer gegen
das Elend wird beseitigt
Nichts, rein gar nichts fällt Adolf X. auf die Frage ein, ob und wie er sich ein Leben in Rumänien vorstellen könnte. Die Arbeit kritisiert er nicht, „aber man kriegt nichts dafür und abends kann man sich noch nicht mal beim Fernsehen erholen“, weil das zweistündige Programm kaum Spielfilme enthält. Die Freizeit vergeht mit Schlangestehen. Im Unterschied zum Anfang der achtziger Jahre, als Brot, Butter, Mehl, Öl und Milch erstmals rationiert wurde, bekommt jetzt offiziell fast nichts mehr. „Die Coupons für das Mehl verfallen oft, weil es entweder gar keins gibt, oder Du zu weit hinten in der Schlange stehst, wenn mal eine Lieferung gekommen ist“, klagt Adolf X. Alle landwirtschaftlichen Produkte oberhalb von Tierfutterqualität verscherbelt Ceausescu ins Ausland, mit der Absicht, sein Reich als erstes osteuropäisches Land schuldenfrei zu machen.
Als Puffer gegen die absolute Verelendung duldete der Diktator bisher den Schwarzmarkt. Die Kollektivierung in den fünfziger Jahren hatte den Bauern manch winzige Anbaufläche, einen Hühnerstall und den Garten gelassen. So versorgten die Dörfer die Stadtbevölkerung. Auch jetzt noch werden „30 Prozent des Nationalproduktes über den Schwarzmarkt konsumiert“, erklärt ein Geistlicher.
Die Preise sind horrend. Als schwarze Währung fungieren Kaffee und Kent-Zigaretten. Ein halbes Pfund Kaffee erstehen Ausländer im Devisen-Shop für rund zwei Dollar. Umgehend verkauft eine Rentnerin die Bohnen für 300 Lei oder 62 DM. Sie benötigt das Geld für den Postbeamten, damit er ihr das Lebensmittel-Paket aus Deutschland - gegen hohe Zollgebühren - aushändigt. Adolf X. brauchte die Zigaretten-Währung um die Ärzte und Schwestern im Krankenhaus zu bestechen. Andernfalls hätte er weder einen Gips für das gebrochene Bein noch Essen erhalten.
Seitdem X-Dorf schrittweise entvölkert wird, fehlen auf dem Wochenmarkt der Stadt Milch, Eier und Speck. „Ich konnte meine Kuh nicht in die Waschschüssel stellen und die Hühner im Wohnzimmer laufen lassen“, erklärt ein Einkäufer. Er steht vor prallgefüllten Säcken mit Auberginen, Paprika und Pflaumen, die teilweise aus weit entfernten Landesteilen stammen. „Wir spüren den Verlust der X-Dorfer Bauern. Wenn die anderen auch nicht mehr kommen, werden die Armen der Stadt wirklich hungern“, fürchtet ein örtlicher Pfarrer.
Gnadenlos schweigt
die Kirche
Es „quält“ den Gottesmann die Not der Glieder seiner Kirche. Doch statt Qual herauszuschreien, klappt der Geistliche wie ein Taschenmesser auf dem Stuhl zusammen, als er erfährt zu welchem Zweck der fremde Gast um Einlaß bat. „Ich empfange Sie als Mensch, nicht als Journalistin.“ Kaum hat die Ehefrau das Zimmer betreten und sich spontan mit kritischen Bemerkungen über die staatliche Kontrolle der Kirche in die Diskussion eingemischt, da instruiert der Gatte seine Gemahlin über die Identität der Besucherin. Abrupt straffen sich die Gesichtszüge der Theologin: „Es ist schwer, hier zu leben, aber man kann existieren.“
Eine Formel, die etliche Pfarrer Siebenbürgens auswendig gelernt zu haben scheinen. Zumindest diejenigen, die zum Ausharren halbwegs entschlossen sind. Das ist eine Minderheit von derzeit noch 115 Pfarrern, die vor allem auch darunter leiden, daß die monatliche Benzin-Ration von maximal zwanzig Litern nicht reicht, um in die ihnen anvertrauten Gemeinden zu fahren. Gen Westen reisten 165 Geistliche. Nein, übel nehmen die Kollegen das nicht. Der Kommentar steht in der September-Ausgabe der evangelischen 'Kirchenblätter‘, fettgedruckt: „Wer nicht glaubt, bleibt nicht.“
Daß der Glaube, das Evangelium den eigentlichen Sinn des Lebens ausmacht, davon ist der fromme Mann - er sitzt wieder senkrecht auf dem Stuhl - überzeugt. „Es gibt Höheres als den Erhalt des Völkchens der Siebenbürgen“, sagt er. Man muß diesen Satz nicht als göttlichen Zynismus begreifen. Aus ihm spricht Sinn für die Realität des seit zehn Jahren anhaltenden Exodus. 115.000 Seelen zählt die Gemeinde der Siebenbürger Lutheraner noch, von denen vielleicht zwanzig Prozent ausharren wollen. Ob es mehr oder weniger sind, das bekümmert einen Oberhirten wenig: „Auch wenn die Glieder gehen, die Kirche bleibt.“
Und sie schweigt, obwohl sie alles sieht und alles weiß. Auf die Nöte der treu zur Kirche stehenden Gläubigen, antwortet einer aus den oberen Rängen der kirchlichen Hierarchie: „Die Siebenbürger Sachsen leiden an einer Krankheit, das ist das Selbstmitleid.“
Übereinstimmend mit sämtlichen Kollegen hegt der Mann nicht den geringsten Zweifel daran, daß Ceausescu das Kasernierungsprogramm realisieren wird. Zwar vertraut die Kirche darauf, „daß Gott es nicht zuläßt“, dennoch bewahren sie ein Gespür fürs Weltliche. „Ich sehe keine Macht, die Ceausescu Einhalt gebieten könnte. Er ist nur noch mit Hitler 1943/44 zu vergleichen: unberechenbar und rücksichtslos bis ins letzte.“
Der das sagt, muß es wissen. Er hat den Faschismus miterlebt. In Erinnerung an Hitler glaubt eine Pfarrfrau die Lösung für Rumäniens Wirtschaftskrise zu kennen: „Auch wenn er viel Schlimmes gemacht hat - Hitler würde die Rumänen wenigstens zum Arbeiten zwingen.“ Keiner der Pfarrer noch andere Intellektuelle kennen die Demokratie. Über demokratische Traditionen verfügt Rumänien nicht. An diese mögliche Erklärung, eine von vielen, für den mangelnden Widerstand in und außerhalb der evangelischen Kirche verschwenden die befragten Theologen keinen Gedanken. Die Rumänen seien ein „geduldiges, demütiges Volk“. Und überhaupt: „Es ist nicht unsere Aufgabe, uns in die Politik einzumischen. Wir beten, das ist unsere Aufgabe.“
Die Staatstreue der Lutheraner wird nur übertroffen von der Orthodoxen Kirche, vor deren Prunkbauten die Bettlerinnen wachen. Sie gilt als korrupt und eng mit dem Geheimdienst verstrickt. Offensiv verteidigen die Orthodoxen die rumänische Diktatur. Ende August verhinderte der rumänische Metropolit im Zentralausschuß des Weltkirchenrates gar eine Diskussion über die „Systematisierung“.
Dazu verweigert auch Bischoff Albert Klein jede öffentliche Stellungnahme. Im Gespräch mit der 'Süddeutschen Zeitung‘ hatte er Bonner Pläne kritisiert, die Rumänien-Deutschen schneller freizukaufen. Erbost erklärt der Bischoff, er habe dem Korrespondenten ausdrücklich jede offizielle Stellungnahme oder ein Interview verweigert. Zudem seien seine Ansichten verfälscht wiedergegeben. Gleichwohl verhehlt er auch einige Wochen später nicht seine Bedenken, daß die Bonner Politik den Untergang der deutschen Kultur in Siebenbürgen beschleunige, insofern sie den Ausreisewunsch verstärke.
Menschenhandel zwischen
Bonn und Bukarest
In der Tat konzentriert sich die stille Diplomatie des Außenministeriums auf Verhandlungen über den Freikauf der Rumänien-Deutschen. Im Juni lief eine zehnjährige Vereinbarung zwischen Bonn und Bukarest aus, wonach die bundesdeutsche SteuerzahlerInnen ein Kopfgeld von je 8.000 DM für jene 120.000 Siebenbürger Sachsen und Banater Schwaben zahlte, die seit 1978 auswandern durften. Bei den Verhandlungen für eine Anschlußregelung soll der Conducator jetzt angeblich das Doppelte verlangt haben. Zusätzlich möchte er Kohl in Bukarest begrüßen und erwartet Bonner Unterstützung für ein erweitertes Handelsabkommen mit der EG. Das Außenministerium wahrt Stillschweigen über die Gespräche mit dem „schwierigen Verhandlungspartner“ und hält sich mit kritischen Bemerkungen zurück.
Ähnlich still verharrt die SPD. Ihr stellvertretender Fraktionsvorsitzender Horst Ehmke verurteilte kürzlich die „Menschenrechtsverletzungen großen Stils“, aber man dürfe Rumänien „nicht isolieren“, sondern müsse es in den 1973 mit der KSZE-Akte eingeleiteten Prozeß der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa einbinden. Bei der andauernden Wiener Folgekonferenz verweigert Rumänien indes als einziges osteuropäisches Land hartnäckig die Unterschrift unter das Abschlußdokument, in dem von Menschenrechten und Reiseerleichterungen die Rede ist.
Im Bundestag, der zuletzt nach den Demonstrationen in Brasov vor Weihnachten 25 Minuten über die Lage in Rumänien diskutierte, blieben die Grünen allein mit dem Beschluß eines „Unterausschusses des Auswärtigen Ausschusses“, ein Hearing zu veranstalten. Die Öko-Partei will jetzt einen neue Initiative starten. Gleichzeitig werden die Grünen sich beteiligen an Aktionen am 15. November, dem Jahrestag der Streiks von Brasov. Ein Treffen europäischer Friedensgruppen beschloß einen internationalen Protesttag gegen die Tyrannei des Tovarusul Nicolae Ceausescu. Hoffentlich wird es ein extrem lauter Tag.
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