: COOLKILLER
■ (Meta-) Physik der Kühlkultur
Ein Land der Kühlkultur könnte man die USA nennen. Eis gibt es allezeit in Hülle und Fülle. Kühlräume und Kühlschränke stehen allerorten in einer für uns ungewohnten Größe und Menge bereit. Und die Klimaanlagen verrichten unablässig ihr wohltätiges Werk.
Das alles hat bei unzweifelbar größeren Hitzegraden seine praktischen Gründe. Und wir wollen nicht verleugnen, daß wir gelegentlich davon profitiert haben. Indessen können wir nicht verschweigen, daß diese Kühlkultur auch ihre erhitzenden Seiten hat.
Die besagten Klimaanlagen zum Beispiel - diese sanften Installationen mit ihrem melodiösen Geräusch, doch gewiß eine der segensreichsten Erfindungen der Moderne garantieren zwar gleichbleibende Innentemperaturen. Dafür aber heben diese sich von den Temperaturen der umgebenden Natur auf das Eindrucksvollste ab. Anstatt sich umstellen und eingewöhnen zu können, erhält der malträtierte Körper eine Kälte-Schocktherapie; anstelle der Übergänge und des allmählichen Wechsels regiert eine künstliche Dauer, deren Reich draußen vor der Tür jäh endet. Und wie steht es gar mit dem Menschenrecht auf Selbstbestimmung? Während wir uns im Land der Freiheit und des Individualismus zu befinden wähnen, macht uns die klimatisierte Zwangsversorgung bei nicht mehr zu öffnenden Fenstern klar, daß wir uns im Lande eines höchst realen, höchst kollektivistischen Sozialismus befinden. Wo das „air-conditioning“ herrscht, kann es auch im Schatten von Miss Liberty nur „Konditionierte“ geben. Wer je versucht hat, natürlich vergeblich, einem der sogenannten „Verantwortlichen“ klar zu machen, daß er keine Klimanlage wünscht, kann sein zähneklapperndes oder -knirschendes Lied davon singen. Und trösten kann er sich allenfalls mit der Erkenntnis, daß die inkompatible, umweltunverträgliche Kultur, in der zu leben er gezwungen ist, in den Klimaanlagen wirklich ein repräsentatives Symbol gefunden hat.
Aber es bleiben ihm ja noch Essen und Trinken auf dem Boden der Kühlkultur: Wer könnte ihren unerhörten Reichtum bestreiten, wenn er an ihren Schatztruhen vorüberzieht! Freilich fördert sie allen ihren sinnlichen Verheißungen zum Trotz auch eine Entsinnlichung, einen Fetischismus der Frische, der aus der kulinarischen Lust eine keimfreie, um nicht zu sagen: klinische Angelegenheit macht. Denn mit der Austreibung des Schimmels und der Fäulnis, mit der Verhinderung des Vergehens, mit der Stillstellung der Zeit, die der Abneigung gegen den Wechsel im Reich der Klimaanlagen entspricht, werden die Dinge nicht nur alterslos; sie zeigen auch keine Zeichen des Lebens mehr. Der immerwährende Schein der Reife hat das Reifen verdrängt. Hygiene unmd Sterilität werden komplementär. Unvergänglichkeit ist eben nur um den Preis der Kälte zu haben.
Die Verleugnung des Waren-Todes aber verträgt sich mit der allgemeinen Todesverdrängung dieser Gesellschaft auf das Beste. Das vergängliche Leben vermeidet erfolgreich die Selbstbegegnung im Spiegel vergehender Dinge. Allerdings erträgt es sich selbst dafür auch umso schwerer, wenn es in die alterslos gewordenen kühlen Waren-Gesichter blickt. Und so ist es nur schlüssig, daß sich einige der vermögenden Mitglieder der Kühlkultur in den Tiefkühltruhen neuartiger Friedhöfe für den Tag ihrer Auferweckung, ihren Defrostertag, konservieren lassen. Ja, während die Waren nur ihrer einmaligen Erwärmung harren, bevor sie ein für allemal im Konsum vergehen, wird für dann Auferstehenden der Tag ihres Abtauens der jüngste Tag ihrer ewigen Auferweckung sein. Und wir stellen uns vor: Wenn sich auch die alternde Welt geändert haben sollte, die noch nicht ganz deckungsgleich mit einem Kühlhaus geworden ist; wenn die meisten unserer Zeitgenossen den Weg allen Fleisches gegangen sein sollten, der nun einmal ein Weg der Veränderung, des Sterbens und der Fäulnis ist, dann werden die Abgetaut-Auferstandenen gebührend, sagen wir: mit einem Eiswein feiern. Doch der Eiswein wird „on the rocks“ ein Eiswasserwein sein. Und sie werden dazu verdammt sein, im Wirkungsbereich einer Klimaanlage zu feiern.
Ludger Lütkehaus
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