piwik no script img

Ulysses auf dem Prüfstand

■ Der „Skandal“ um die „Kritische und Synoptische Ausgabe“ von James Joyce's „Ulysses“: 5.000 Fehler ausgebügelt und ebensoviel neue gemacht?

Fritz Senn

Da geraten sich wieder einmal die Gelehrten in die Haare, Fetzen fliegen bis in die Tageszeitungen - und worüber? Schreibweisen von Namen, Lesevarianten, ausgelassene Stellen, ein paaar Satzzeichen. Nicht nur „ein paar“ allerdings, ganze 5.000, dies in einem Buch, dessen geringsten Details wir erstaunliche Bedeutung beimessen. Weil wir in unseren brillanten Auslegungen dem einzelnen Wort, ja Buchstaben so viel aufbürden, kommt es schon ein wenig auf diese Zeichen an. Daß der Ulysses unter widrigen Umständen 1922 vor die Welt trat, erklärt seine Beschaffenheit: Über Jahre haben wir uns bschwert, daß keine gängige Ausgabe verläßlich war, d.h. in unzähligen Fällen wichen alle von dem ab, was Joyce im Sinn gehabt hatte. Der Text war entstellt, korrupt, bedurfte dringend einer Bereinigung. Die wurde dann mit wissenschaftlichem Aufwand in einem Projekt unternommen, dem Hans Walter Gabler, Anglist und Professor in München, hervorragend qualifiziert vorstand mit einem Team und mit Hilfe modernster Elektrotechnik. Das Ergebnis siebenjähriger Sorgfalt, die sogenannte Kritische und Synoptische Ausgabe mit ihren fünftausend Änderungen wurde am 16.Juni 1984 der Öffentlichkeit überreicht. Texteditionen werden im allgemeinen von Zeitungen nicht wahrgenommen, diesmal aber widerhallte das Rauschen im Blätterwald sogar auf Titelseiten.

Wenn eine lang erwartete Leistung Aufsehen erregt, rührt sie auch an einen unserer edelsten Instinkte, die Besserwisserei. So machten wir „Joyceaner“, die von der präzisen (wenn auch nicht exakten) Wissenschaft der Textedition keine Ahnung haben, uns gleich daran, Zensuren zu verteilen. Die vielen unzweifelhaften Verbesserungen im Text nahmen wir mit stiller Selbstverständlichkeit hin und klopften den Editoren herablassend auf die Schulter, sträubten uns aber gegen Lesarten, die uns nicht einleuchteten. Danach hätte nun kein außenstehender Hahn gekräht, wenn sich nicht in den Staaten eine dissonante, grelle Stimme erhoben hätte. John Kidd, ein junger Amerikaner, der sich mit schwellendem Eifer in die Unzulänglichkeiten vertiefte, die er in der Ausgabe entdecken wollte. Er verwarf sie in Bausch und Bogen. Daß er sich dabei nicht der feinsten Mittel, der gesittetsten Metaphern (das „Joyce-Establishment“ sollte „gesprengt“ werden) oder professioneller Zurückhaltung bediente, hat ihm fast über Nacht Bekanntheit verschafft, jedoch auf die Länge eher geschadet, weil sich seine Einwände leicht mit dem bloßen Hinweis auf Hofmanieren wegwischen ließen, auf die Gürtellinie.

Der letzte Rundumschlag war genau getimt. Rechtzeitig auf das internationale James-Joyce-Symposium in Venedig im Juni brachte die 'New York Review of Books‘ (30.6. 88 - Gablers Antwort in der Ausgbe vom 18.8.) einen Aufsatz, The Scandal of Ulysses, in dem detailliert aufgelistete Verstöße in die Empfehlung ausliefen, die Ausgabe von 1984 durch die mangelhaften alten zu ersetzen, die er als das immer noch geringere Übel hinstellte. Die neue Ausgabe hat so viele Irrtümer eingeführt, wie sie zu berichtigen vorgibt - eine gewaltige Anklage mit bereits vielfältigem Echo und vielen Verzerrungen. Was hat der Laie von all dem zu halten?

Zuerst einmal, daß die Form der persönlichen Anwürfe unnötig war: Es gäbe bei noch so divergierenden Ansichten keinen Grund zu bösem Blut; über alles könnten wir uns engagiert und gleichwohl sachlich unterhalten. Aber abgesehen von Ad-hominem-Bezichtigungen und dem falschen Tonfall möchten Ulysses-Leser, Fachleute wie Liebhaber, gleichwohl wissen, was es mit den Vorwürfen auf sich hat. Das läßt sich global nicht entscheiden. Es gibt verschiedene editorische Richtungen, theoretische Ansätze; die Sachlage ist verwickelt: Dokumente sind zahlreich, weit verstreut, dennoch nicht lückenlos. Wir wissen nicht, was zwischen der einen erhaltenen Stufe und der nächsten vorgefallen ist, und sind auf Spekulationen angewiesen, plausible Vermutungen, Wahrscheinlichkeiten.

Auf dem Spiel stehen Prinzipien und Verfahren. Darüber läßt sich unter Textkritikern trefflich streiten. Für den Leser aber ist die Frage konkret und schlicht immer wieder: Soll es nun so heißen oder so? Zur Illustration also die Entstehung eines Gedichts, bei der Stephen Dedalus mit lautlosen Lippen innerlich Wörter formuliert, die wir bisher immer als „mouth too her womb. Oomb, alwombing tomb“ gelesen haben. Nun aber steht neuerdings: „mouth to her moomb“ (Ulysses 3.401), wie Joyce ursprünglich geschrieben hat. Am Rand eines frühen Entwurfs probierte er abstruse Varianten aus, Ungetüme wie „moongmbwb“, bis er sich auf ein kürzeres „moomb“ verfestigte, das die Synoptische Ausgabe wieder aufgenommen hat. Natürlich ist diese Form viel ansprechender als ein gewöhnliches womb: da beobachten wir den wortschöpferischen Joyce: moomb ist wohl ein Ansatz zu „mouth“, aus dem Mutterleib/Bauch/Schoß wird, den der Mond (moon) bescheint -? Als archäologischer Fund ist das Gebilde ein Gewinn.

In den Fahnen aber ist die Ausgefallenheit zu „womb“ vereinfacht worden, und so wurde es bis 1984 weitergegeben. Prinzipiell läßt die Synoptische Ausgabe Abweichungen in Dokumenten der Übertragung (wo der Wortlaut abgetippt oder gesetzt wurde) nicht gelten und eliminiert sie, wenn nicht gravierende Gründe dagegen sprechen, als Fehler. Demgemäß wurde moomb an einem bestimmten unglückseligen Punkt zu „womb“, eine der vielen vermeintlichen Berichtigungen von Setzern und Korrektoren. Ulysses hat viel unter solchen Routineeingriffen, Glättungen, Normierungen gelitten. Andererseits können wir uns fragen, warum der Autor in mehrfachen Korrekturen seine eigenwillige Form nicht gehütet hat. Nun, er war kein idealer Korrektor, war überarbeitet, hatte schlechte Augen, gab sich mehr mit den Neuschhöpfungen ab als der peinlichen Durchsicht des bereits Erledigten. Die 5.000 Veränderungen waren auch seine Versäumnisse (sonst hätte sich keine neue kritische Ausgabe aufgedrängt). Er hat nachweislich viel übersehen, groteske Mißgebilde, die er nie mit Absicht stehen lassen wollte. Also war auch womb ein solches Versehen? Denkbar wäre ja, daß Joyce seine Kühnheit neu erwogen und zurückgenommen hat; doch solche Revision ist nirgends belegt. Im Prinzip hat derartige „passive Autorisation“ (was der Autor passieren läßt) in der neuen Ausgabe nichts zu suchen. Die Überlegung der Herausgeber ist vernünftig, vertretbar, konsequent und problematisch: Verschiedene Grundsätze wären möglich, darunter die herkömmliche Ansicht, daß der Autor die Korrekturbogen seinerzeit, mindestens juristisch, gutgeheißen hat.

In ihrer Entscheidung gehen die Editoren dem nachlässigen Autor gewissenhaft an die Hand, schreiten ein, wo er es unterlassen hat. Sein Ärger über die vielen Druckfehler im Ulysses von 1922 bestätigt sie; dagegen spricht, daß notwendige Verbesserungen seinerzeit ausblieben. Wie geht man nun vor? Welchen Status haben die Pariser Erstausgabe und alle abgeleiteten Texte, mit denen wir nie zufrieden waren? Hier ist viel Spielraum für Entscheidungen und Diskussionen. Die Ausgabe von 1984 stützt sich als Neuerung auf ein „kontinuierliches Manuskript“, die Anreihung von Reinschriften und handschriftlichen Zusätzen und Korrekturen - das gedankliche Konstrukt eines Ulysses (fast) ganz in Joyce's Hand, aber verteilt auf viele Dokumente. Wo sich Zeugnisse widersprechen oder wo sie fehlen, ergeben sich Fragen, Konflikte, die Entscheidungen verlangen.

Wie im Fall womb/moomb. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß Joyce all seine Experimente mit Lauten und Buchstaben beim späteren Durchlesen (wie flüchtig auch immer) schlichtweg vergessen hätte und ihm die Verflachung des so mühselig zustandegekommenen moomb durch ein geläufiges Wort nicht aufgefallen wäre? Gerade der geistige Aufwand von einst könnte die spätere Unaufmerksamkeit seltsam erscheinen lassen; auf Ad-hoc -Nicht-Wörter müßte man doch ganz besonderss achten. Anders gesagt, ein wenig selber schuld war er schon, der Verfasser, der auf seine Sonderanfertigungen nicht besser aufgepaßt hat. Beweisen aber läßt sich auf diese Weise die Berechtigung („Autorität“) von „womb“ so wenig schlüssig wie die von „moomb“.

All dies soll nur zeigen, daß keine Edition von selbst einen unanfechtbaren Text auswirft. Die Synoptische Ausgabe dient kritischer Beschäftigung, weist Varianten auf, gibt die Unterlagen für unsere Entscheidungen; sie ist nie als endgültig besiegelt worden. Sie hat im Effekt die Fragwürdigkeit von Texten erst recht verdeutlicht. Schließlich interpretieren wir jeden Text in unserem Ebenbild, weiten aus, mißverstehen, bilden um; und nun, angesichts der Unmöglichkeit gültiger Fixierung, haben wir gar keinen gesicherten Text, den wir mißverstehen können. Das fügt sich nahtlos und orgiastisch in die theoretischen Übertreibungen der Epoche. Ein paar Reaktionen waren dann ganz einfach ein intellektuell verbrämtes : „Wie wunderschön postmodern!“

Schön und einleuchtend. Nur wird der Text, wie er in der dreibändigen Ausgabe von 1984 mit Akribie und prinzipieller Konsequenz verfertigt worden ist, praktisch dann doch zum definitiven, wenn nur noch die rechte Seite, der sogenannte Lesetext, d.h. das editorische Ergebnis, verfügbar wird, wie es zwei Jahre danach geschehen ist in der einbändigen Ausgabe, die nun die anderen, früheren verdrängt hat. Wer heute einen Ulysses ersteht, bekommt bald nur noch die Münchener Fassung, und dies ohne Abstufungen, Varianten, Fragezeichen, Zweifel. Der eine Wortlaut - mit seiner unumgänglichen methodischen Zufälligkeit - wird kanonisiert, alleinherrschend.

Die Gabler-Ausgabe wurde, so glauben wir fast alle, mit Akribie und prinzipieller Konsequenz hergestellt. Das eben bestreitet Kidd. Aufgrund von vier Jahren eingehender Untersuchung glaubt er, Schludrigkeiten und Inkonsequenzen nachgewiesen zu haben. Seinen Haupteinwand, daß sich die Ausgabe auf Faksimiles stütze, nicht die behutsame Prüfung der Originale, in denen allein sich verschiedene Tinten, Bleistifttöne oder radierte Stellen unterscheiden lassen, bestreitet Hans Walter Gabler vehement. Urteile über solcherlei Fragen können, ihrem Wesen nach, nur anhand eben dieser Originale gefällt werden.

John Kidd zählt eine Reihe von Delikten auf, darunter Namen, die falsch transkribiert worden sind, also Versehen, wie sie vorkommen können, nicht sollten, jedoch eine Ausgabe nicht wertlos machen. Dann führt er Widersprüche an, daß etwa an zwei gleichgearteten Stellen eine Schreibkraft jeweils einen Doppelpunkt einfügt, den die Ausgabe in einem Fall übernimmt, nicht aber im andern. Diese und ähnliche Einwände weist Gabler summarisch zurück.

Was bedeutet dies alles? Nichtparteigebundene Joyceaner wünschen keine eitlen Anschuldigungen. Ebensowenig angebracht ist hier eine anklagende Generalverdammung oder dort die vornehme Mißachtung eines Gebells, das die Karawane am aufrechten Gang nicht hindern könnte. Vieles wäre nur konkret und anschaulich vorzuführen, das Wie und Warum im einzelnen zu begründen. Es verfängt wenig, die angeblichen Mängel damit abzutun, daß sie aus „zwei Kommas, zwei Doppelpunkten, einer Großschreibung, einer Unterstreichung, einer Reihe von Punkten für eine Ellipse“ usw. bestehen, als wäre derartiges in einer kritischen Ausgabe belanglos. Man könnte z.B. rechtfertigend nachweisen, daß die beiden erwähnten Doppelpunkte nicht ganz gleichartig sind (einer wurde von Joyce in einem Zusatz gewissermaßen adoptiert). Wollte man die Streitpunkte bis ins letzte durchargumentieren, könnte sich allenfalls wegen der dokumentierten Inkosequenz des Autors eine editorische Konsequenz als Ideal von fraglicher Wünschbarkeit herausstellen. Anders gesagt: jede Edition würde uns vor ähnliche Probleme stellen.

Hingegen verlangen etwa die von Kidd monierten Ellipsen konkrete Ausführlichkeit. Denn die Ausgabe schreibt sie alle im drittletzten Kapitel einer Typistin zu, die die eigenartigen und typischen Satzabbrüche mit Auslassungspunkten (“...“) markierte. Nach Kidd sind nun diese Zeichen, dreißig an der Zahl, von Joyce selber eingefügt. Dies möchten wir gern genauer wissen. Im Vertrauen auf editorische Gewissenhaftigkeit hielten wir alle die Ellipsen für ungerechtfertigte Eingriffe; nun soll Joyce Urheber sein? Was stimmt? Wenn in der Tat diese dreißig Ellipsen nicht einer schulmeisterlichen Hilfskraft anzulasten sind, sondern späte Absichten wiedergeben, verändert sich unser Bild.

Aufgrund des Lärms hat sich ein amerkanischer Verleger entschlossen, die Sache einer Kommission zu überlassen, die alle Beteiligten anhören und mit der notwendigen Gelassenheit verfahren sollte. Ihr Schiedsspruch, bestenfalls eine Empfehlung, wird eine Weile dauern. Natürlich ist die Ausgabe nicht einfach zu verschrotten, wie Kidd mit demagogischer Gebärde fordert. Dem ungestümen Herausforderer muß aber zugestanden werden, daß er sich längere Zeit übergangen, nicht zugelassen, fühlen konnte. Er ist nicht einer, der sich unterdrücken läßt, und so wird er um so aufsässiger, je mehr man ihn von oben herab behandelt. Jede Kompetenz kann man ihm nach seiner Beschäftigung nicht mehr einfach absprechen. Wenn es denn zuträfe, daß ihm „die Schulung im Lesen kritischer Apparate fehlt, die stets - und so auch hier - die Gründe für editorische Entscheidungen liefern“ (H.Gabler), dann wäre unterstellt, daß dieser kritische Apparat sich auch in einer intensiven (wie immer motivierten) jahrelangen Suche nach Belastungsmaterial nicht erschließt, sondern eigene Schulung voraussetzt. Die Unzugänglichkeit ihrer Kodierung hat einiges Unbehagen an der Ausgabe verursacht. Die meisten Benutzer haben das Zeichensystem nicht kapiert; ihnen geht, wie zu Protokoll steht („an absence of basic reading skills“), die fundamentale Fertigkeit im Umgang mit dem Zeichensystem ab. Der Herausgeber beklagte sich wiederholt über allgemein fehlende Vertrautheit mit den Zielen, Methoden und dem Format der Edition, über unsere Voraussetzungslosigkeit. Wahrscheinlich zu recht.

Die Kontroverse wird, ihrer Natur nach, nicht versiegen. Es liegt an Kidd, Pauschalbehauptungen („an 2.000 Stellen gibt es keine handschriftlichen Belege für Gabler-Lesarten“) zu belegen. Gesetzt der Fall, seine in Aussicht stehende umfangreiche Dokumentation könnte wirklich viele Stellen ernsthaft beanstanden, so hätte sie Gabler immer noch nicht aus der Luft gegriffen: Vielleicht könnte (oder sollte) man in komplizierten Lagen aufgrund anderer Überlegungen, Hypothesen und Prinzipien anders entscheiden. Andere Entscheidungen aber sind Bestandteil des Apparats der Ausgabe, wenn auch dem Laien nicht immer leicht aufschließbar.

Vielleicht ist es wie bei Übersetzungen: der Streit darüber zeigt erst, wie schwer und beinahe unlösbar dieAufgabe eigentlich ist. Und wie zerbrechlich das Glashaus.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen