: Modische Fummel
■ Das Amsterdamer Computermusikstudio STEIM ist zwanzig Jahre alt geworden
Der Aufruhr von 1968 bewirkte nebenbei in Amsterdam auch die Gründung eines Studios für elektronische Musik. Musiker wie Louis Andriessen, Konrad Böhmer, Misha Mengelberg und Peter Schat wollten politisch engagierte experimentelle Musik mit Live-Elektronik machen. Erstes Großprojekt war die Oper Reconstructie, ein antiimperialistisches Moralspiel. Bis in die frühen siebziger Jahre funktionierte die Organisation von STEIM nach dem Prinzip „Anarchie gegen demokratischen Zentralismus“, wie Konrad Böhmer es einmal beschrieb.
Mit der organisatorischen Straffung kamen neue Leute ins Haus, und es wurde eine Abteilung für Forschung und Lehre eingerichtet. Eines ihrer ersten Ergebnisse war die Erfindung der „Black Box“, ein perfektioniertes System, mit „Spannungssteuerung“ Klänge herzustellen. Nachdem die Synthesizerwelle der frühen siebziger Jahre versickert war, begann 1978 für STEIM das Computerzeitalter, also fast zeitgleich mit der Errichtung des Pariser IRCAM-Studios. Der Grundgedanke der Initiatoren, immer mit transportablen Geräten zu arbeiten, verschaffte den Amsterdamern einen entscheidenden Vorteil.
Während IRCAM Millionen aufwenden muß - die es dank der Staatsförderung hat -, um die flinken Kleinrechner umzustellen, arbeitet STEIM ausschließlich mit den PCs, die die Komponisten auch zu Hause haben. Der Traum des IRCAM -Chefs Boulez ist die lange Leitung zwischen dem PC des Komponisten und seinem Institut, wo sich der Heimwerker computertechnische und kompositorische Beratung holen kann. Auch Joel Ryan, STEIM-Mitglied, Komponist und Softwarespezialist, stellt fest: „Im wesentlichen kommen die Komponisten nicht hierhier, um mit unseren Geräten ein Projekt zu verwirklichen, sondern um zu reden.“
Daß diese Gespräche nicht nur technische Fragen klären, sondern auch erheblich die Phantasie der Komponisten beeinflussen, zeigen die Arbeiten der letzten Jahre. Michel Waisvisz, heute Leiter des Instituts, kam 1973 zu STEIM und erfand die Crackle-Box und den Crackle-Synthesizer, der einfach Kurzschlüsse zur Klangerzeugung benutzt. Inzwischen hat er Theater-Roboter entwickelt und die „Hands“, mit denen er durch Knopfdruck und Körperbewegung acht computergesteuerte Synthesizer lenkt. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen rückt zunehmend die Performance. Kaum ein Künstler verläßt das Haus, ohne seine Musik visualisiert zu haben.
Da man auf Musik durch Körperbewegung oder mit Video gut vorprogrammiert ist, werden Projekte dieser Art besonders gefördert. Zu seinem zwanzigjährigen Bestehen zeigte STEIM einige dieser Arbeiten: so Fred Kolmans Kolman's Kube, bei dem der Komponist versucht, durch Sensoren, die in Bühnennähe angebracht sind, Musik auszulösen. Aus japanischen Selbstverteidigungskursen scheint er seine Bewegungen entlehnt zu haben, die tatsächlich weniger Musik auslösen als imitieren. Der Idee fehlte die Komposition und besonders die technische Bewältigung. Kaum befriedigender war die Arbeit von Ray Edgar, zu dessen Raumgleitklängen ein Tänzer in einem Zelthaus ein bunt eingefärbtes Schattenspiel trieb. Auffallend viele der in STEIM arbeitenden Künstler sind weder Komponisten noch Musiker, sondern bildende Künstler. Und im wesentlichen versuchen sie, Computerklänge auszulösen, die ihre visuelle Performance unterstützen.
Die Realisation von Musik mit qualitativen Anspruch ist dem gegenüber zweitrangig. Mit der ersten Aufführung beginnt ihr Schlußverkauf. Die Kunstware ist verderblich, das Tempo ihrer Zirkulation ist Schwindel erregend. Wie hilflos dagegen die Zuhörer gegenüber ungefällig komponierten Stücken sind, zeigte die letzte Aufführung der Reihe, die Komposition Apokalypsis cum figuris von Konrad Böhmer. Frei nach Thomas Manns Doktor Faustus schrieb er diesen musikalischen Alptraum. Grundmaterial sind Stimmen, die durch Synthesizer verfremdet werden, bis aus der apokalyptischen Klage manchmal nur noch Grunzen, Fauchen und Darmgeräusche zu hören sind. Drei Popsänger kreischen in Endzeitlust Luzifers zynische Kommentare dazwischen und verwirren. Nach den glatten und einfachen Computerspielen fühlten sich die Zuhörer von diesem ungeschliffenen Werk wie geohrfeigt.
„Wir sind im Steinzeitalter der Computermusik und beginnen vielleicht gerade, Poesie mit dem Rechner zu schreiben“, so formulierte es Joel Ryan. Etwas von dieser Poesie spürte man bei Nicolas Collins, der mit seiner computerisierten Posaune immer ausgefeiltere Klanggedichte erzeugt und beim legendären Ensemble „Musica Elettronica Viva“, das seine erste Blütezeit in den sechziger Jahren hatte. Jeder improvisierte mit seinem individuellen Formelvorrat: George Lewis (Posaune) als unverwechselbarer Klangakrobat oder Alvin Currans (Synthesizer) Choräle, dazwischen verstreute Richard Teitelbaum (Computer und Synthesizer) als amerikanische Heimatklänge. Wie schwierig es ist, sinnvolle Musik mit dem Computer zu machen, ist bekannt. Aber in STEIM wird zu oft der tönende Stoff zu modischem Fummel verschnitten.
Clair Lüdenbach
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