: Estlands Versuche in rot-grün
Der Plan war beinahe perfekt. Wäre es nach dem Willen Moskaus gegangen, hätte Estland seine landwirtschaftlichen Probleme mit einem Schlag gelöst: Die Ausbeutung der Phosphatvorkommen im Nordosten der Republik, sollte genügend chemische Düngemittel für weite Teile der Sowjetunion liefern. Nur einen Fehler hatte das Projekt: Wäre es Wirklichkeit geworden, so hätte Estland keine Düngemittel mehr gebraucht - das fruchtbare Kernland wäre für immer verwüstet worden.
Ein Sturm der Entrüstung in der betroffenen Bevölkerung hat das Monsterprojekt gestoppt. Eine Allianz aus Bauern und städtischer Intelligenz hatte die mächtige Planungsbürokratie besiegt. Heute besteht in Estland eine Vielzahl kleiner grüner Gruppen. Sie verstehen sich nicht nur als „Umweltschützer“, sondern vor allem als treibende Kraft zu einer radikalen estnischen Autonomie. Denn immer wieder sind es die zentralen Ministerien, die sich für kurzsichtige Großprojekte mit weitreichenden Folgen stark machen, ewtwa die Chemiefabrik von Maardu bei Tallinn, welche die Umgebung der Hauptstadt in eine Schwefelwüste verwandelt hat. Oft finden die Grünen mehr Verständnis bei den örtlichen Behörden, doch dann macht der Druck aus Moskau eine flexiblere Politik unmöglich.
In der Anfangsphase der Grünen - bis zum vergangenen Sommer - sei man den Grünen tatsächlich positiver gegenübergestanden, meint der Journalist Vello Pohla, stellvertretender Vorsitzender der grünen Bewegung und gleichzeitig Parteimitglied. Der Wind habe sich gedreht, als die Grünen begonnen hätten, sich für einen radikalen Stopp der russischen Einwanderung einzusetzen. „Wir sind keine Chauvinisten, falls Sie das meinen“, erwidert Vello Pohla, „nur ist die Einwanderungsfrage ein ökologisches Problem, sehen Sie sich doch nur einmal die Wohnbezirke der Einwanderer an.“
Die Wohnbezirke der russischen Arbeiter - in der Sowjetunion „Mikrorajon“ genannt - liegen außerhalb von Tallinn, von den bürgerlichen Giebelfassaden der Altstadt durch kilometerweites Niemandsland getrennt. Verkehrsverbindungen zum Stadtzentrum gibt es meist nicht. In diesen Inseln am Rand der Stadt wird so gut wie ausschließlich Russisch gesprochen. Die ersten Zuwanderer kamen in den 50er Jahren, jeder neue Fünf-Jahres-Plan brachte eine neue Welle von Gastarbeitern. Im Baltikum kann man etwas mehr Lohn erwarten und besser ausgestattete Geschäfte.
Der Kampf der estnischen Grünen gegen die aufgezwungenen Fabriken und Bergwerke ist der russischen Arbeiterschaft fremd geblieben. Viele sehen darin einfach eine nationale Abneigung gegen ein anderssprachiges Volk. Und vielen russischen Arbeitern scheint es unverständlich zu sein, wie man Fabriken und Kraftwerke als Feinde betrachten kann. Nur unter den ersten Zuwanderern, die schon 30 Jahre in Estland leben, habe die Grünen-Bewegung einige Anhänger gefunden, erzählt Vello Pohla. „Aber wie soll jemand ein Gefühl für seine Umgebung entwickeln, wenn er heute hier und morgen dort wohnt?“
Es hängt eben auch mit dem veränderten Machtgefüge zusammen, daß die Grünen heute stärkere nationale Akzente setzen. Anfang der 80er Jahre waren nationale Lösungen noch streng verboten. Die Grünen-Bewegung wurde die erste Spielwiese für eine erstarkende Opposition. Die tiefe Krise der estnischen KP und die Entstehung der „Volksfront“ haben ein neues Klima geschaffen. Lange aufgestaute Ressentiments gegen die russische Kolonisierung brechen auf. Wenn die staatliche Zugehörigkeit zur Sowjetunion auch vorderhand nicht angetastet wird, so setzen estnische Intellektuelle offen auf traditionelle Bindungen zum Westen, vor allem zu den skandinavischen Ländern.
In diesem Klima der nationalen Renaissance konkurrieren die Grünen mit einer Vielzahl anderer Basisgruppen und wehren sich gegen den immer stärker werdenden Sog der „Rahvarinde“ (Volksfront), die im vergangenen Sommer bis zu 300.000 Menschen - nahezu ein Drittel der estnischen Bevölkerung auf die Straße brachte.
Die Grünen versuchen aber die Eigenständigkeit ihrer Bewegung zu betonen: „Wir wollen ein radikales Umdenken im Alltagsleben erreichen“, sagt Vello Pohla, und geht fließend ins Deutsche über: „eine alternative Lebensweise“. In einem Land, in dem der Mangel an Konsumgütern alle Aufmerksamkeit beherrscht und der Handel nach wie vor zentralisiert ist, braucht man viel Phantasie, um einer solchen Lösung zu folgen... Und doch werde in Estland bereits mit biologischem Landbau experimentiert, erzählt der grüne Journalist. „Bisher beschränken sich diese Experimente auf die Inseln im finnischen Meer, und sie stützen sich auf private Kleinbauern, aber auch zwei oder drei Kolchosen interessieren sich für den Versuch.“
Friedrich Kargan
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