: 10 Jahre Gesetz 180
Dieses Gesetz, das 1978 unter einer geschickten und blitzschnellen Ausnutzung einer politischen Konstellation durch die Gesetzgebung geschleust wurde, ist weit mehr als ein Psychiatriegesetz. Als Psychiatriegesetz erklärt es das Ende der Irrenhäuser und entzieht allen psychiatrischen Einrichtungen, die kein zusammenhängendes Angebot von Prevention, Behandlung und Rehabilitation garantieren, die gesetzliche Grundlage. Praktisch sind seitdem Universitätskliniken, Privatkliniken etc. illegal.
Die psychiatrische Versorgung soll laut Gesetz durch sogenannte territoriale Dienste (Der Begriff „territorialer Dienst“ läßt sich nicht mit psychosozialen Diensten, Ambulatorien, hierzulande übersetzen. Er bedeutet vielmehr: Die Psychiatrie muß dort arbeiten, wo die Leute leben, und muß alles anbieten, was die psychisch Leidenden und ihre Angehörigen brauchen. Gewöhnlich werden diese Dienste „Zentren für seelische Gesundheit“, Centri di salute mentale, genannt.) stattfinden. Grundvoraussetzung ist dafür, daß die Dienste rund um die Uhr offenstehen. Bislang bieten nur 21 Dienste einen 24-Stunden-Service, tausende wären nötig.
Der Staat hat bisher die notwendigen Gesetze zur Finanzierung der Vorgaben des Gesetzes 180 verzögert. Das zum Stand der Psychiatriereform im engeren Sinne.
Die Psychiatriereform ist jedoch in den Augen der Italiener keineswegs gescheitert, schon gar nicht das Gesetz 180. Es bedeutet vielmehr die Eröffnung einer nationalen Auseinandersetzung, die auch das nächste Jahrzehnt beherrschen wird.
Hierzulande wird auch übersehen, daß dieses Gesetz eine andere, unmittelbar politische Seite hat: Es ist die vielleichst kühnste Neudefinition der Menschenrechte. Das betrifft das Institut der Zwangsbehandlung, trattamento sanitario obligatorio, TSO.
Der TSO bedeutet: erstens, die Zwangsbehandlung wird bürokratisch so erschwert, daß im Normalfall lieber darauf verzichtet wird; zweitens, die Verantwortung einer Zwangseinweisung liegt beim Politiker, beim Bürgermeister; drittens, sie ist auf sieben Tage begrenzt, viertens, öffentliche Intervention ist an jedem Punkt des Verfahrens möglich; fünftens, der Betroffene behält seine vollen Bürgerrechte.
Durch diese Details verliert der Staat die Möglichkeit, Menschen zu internieren und zu kontrollieren unter dem Vorwand einer psychischen Störung. Mithin: eine der wichtigsten Unterdrückungsmittel wird praktisch außer Kraft gesetzt. Folgerichtig ging in den letzten Jahren die Stoßrichtung einer Gesetzesrevision vor allem gegen dieses Rechtsinstitut. Es hat sich aber immer gezeigt, daß auf der Basis des Gesetzes 180 große Koalitionen zur Verteidigung möglich waren.
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