Kein Ende der Anstalten in Sicht

■ Behindertenbewegung und Experten berichten über praktische Alternativen zum Leben in der Isolation Heime sind überflüssig / Aber auch Autonom-Leben-Konzepte haben ihre Haken

Dreizehn Jahre ist es jetzt schon her, seit die Psychiatrie -Enquete 1975 von menschenunwürdigen Zuständen in bundesdeutschen Großeinrichtungen berichtet und ein anderes Wohnen für die Insassen dieser Institutionen dringend empfohlen hat.

Geändert hat sich indes nicht viel: Nach einer Erhebung des Bundesfamilienministeriums lebten 1984 etwa 337.000 Menschen in Anstalten, denen eine körperliche, geistige oder psychische Behinderung attestiert wurde. Für gut die Hälfte von ihnen bedeutet das zehn Jahre Heimaufenthalt, ein Viertel der BewohnerInnen verbringt sogar zwanzig und mehr Jahre auf dem Anstaltsgelände. Daß das damit verbundene Abschneiden von sämtlichen sozialen Kontakten inhuman ist, hat sich selbst bei Wohlfahrtsverbänden und PolitikerInnen herumgesprochen.

Überfällige grundlegende Neuorientierungen scheitern allerdings nicht zuletzt an ökonomischen Überlegungen, das vorliegende „Gesundheitsreformgesetz“ paßt in dieses Bild. Radikale Kehrtwendungen zu fordern, blieb zuletzt den Krüppel- und Behinderteninitiativen überlassen: Sie bissen nicht nur in den sauren Apfel und gossen ihre Vorstellungen von der Heimauflösung in einen fundierten Pflegesatzentwurf für die Grünen, sondern engagierten sich im Aufbau ambulanter Dienste und Selbstbestimmt-Leben-Projekte. Über die praktischen Erfahrungen reflektieren einige Initiativen in Berichten, die Anneliese Mayer und Jutta Rütter zusammengetragen haben.

Abschied vom Heim

Die Vorteile vom Leben außerhalb der Anstaltsmauern liegen auf der Hand: Behinderte können in einer eigenen Wohnung oder mit Freunden zusammen leben. Dabei müssen sie nicht auf notwendige Hilfen verzichten und können deren Bedarf und Umfang selbst bestimmen.

Auf dieser Grundlage, das machen die zu Wort kommenden Gruppen durchgängig deutlich, haben behinderte Menschen erst die ehrliche Chance, sich mit der Welt des Nichtbehinderten zu arrangieren oder auseinanderzusetzen, sich zu emanzipieren und Entmündigungen abzuwehren. Ungeachtet dieser positiven Aspekte haben die Projekte mit bedenklichen Entwicklungen zu kämpfen. Neben der akuten Gefahr, daß durch Sozialkürzungen und fehlende gesetzliche Vorgaben die Existenz mancher Beratungsangebote und Hilfsdienste auf dem Spiel steht, ging es den Herausgeberinnen in ihrem Buch zuerst um ein anderes Dilemma: Vielfältige Probleme zeichnen sich dort ab, wo Anspruch und Realität in Widerspruch geraten.

Die Idee, daß behinderte Frauen und Männer in den ambulanten Diensten Mitspracherecht und Einfluß besitzen, gerät offensichtlich mit zunehmender Professionalisierung und Größe des Hilfsdienstes ins Wanken. Viele behinderte Menschen sind mit der Organisation ihres Alltags ausgelastet, aufwendige Nebenarbeiten fallen da denjenigen zu, die daraus einen Job gemacht haben - oftmals eben die nichtbehinderten engagierten SozialarbeiterInnen ... Und gleichzeitig stellen sich berechtigte Zweifel ein, ob behinderte Menschen die besseren Manager der Hilfe sein können. Herauskristallisiert hat sich jedenfalls, daß die Initiative der einzelnen Pflegeabhängigen abnimmt, je größer der bürokratische Apparat und je kleiner die individuelle Anforderung zur Mitarbeit ist.

Die Selbstbestimmt-Leben-Projekte, die von vornherein vom behinderten Ratsuchenden ein gewisses Maß an eigenem Engagement und Willen zur Mitgestaltung der Lebenssituation verlangen, bekommen von Mayer und Rütter eine andere kritische Frage zu hören: Es sei zu überdenken, inwieweit ihr Konzept zu stark auf schon fast emanzipierte Krüppel/frauen zugeschnitten sei und so an vielen HeimbewohnerInnen vorbeiginge.

Leider geben auch die Herausgeberinnen keine Hinweise auf mögliche Antworten für solche verzwickte Situationen. Ihr Verdienst ist es, zum Rückblick aufzufordern auch angesichts erfolgreicher Arbeit, wie sie etwa der Marburger „Verein zur Förderung der Integration Behinderter“ betreibt. Diese Initiative, die ihre Angebote auf die ambulanten Hilfen für geistig behinderte Personen konzentriert, schildert ausführlich, wie Bemündigung und Nicht-Aussonderung durchaus gelingen kann. Eine banal klingende Erkennntnis, die sich aber nur mühsam durchzusetzen beginnt.

Reform nur für Heilbare?

Nach Schätzungen leben in der Bundesrepublik 60.000 geistig behinderte Erwachsene in geschlossenen Institutionen. Diese Zahl ist Anlaß genug, über Perspektiven nachzudenken, wie es in einem von Hajo Jakobs herausgegebenen Fachbuch über Behinderte und ihre Lebensräume getan wird.

Die AutorInnen kommen darin in oft ermüdender Wissenschaftlichkeit zu der Festsellung, daß für geistig behinderte Erwachsene „weder quantitativ noch qualitativ ausreichende Wohnmöglichkeiten vorhanden sind“ und bei der differenzierten Hilfe durch ambulante Dienste eine desolate Situation vorherrscht. Wenn die familiäre Versorgung zusammenbricht, bleibt da meist nur die Einweisung in Anstalten, wo der Tagesablauf der Betroffenen von der zentralen Versorgung geprägt und die Bereiche Arbeit, Wohnen und Freizeit üblicherweise nicht getrennt sind.

Die entschiedene Forderung der in dem Buch Position beziehenden Fachleute, daß „für alle geistig behinderten Menschen die Möglichkeit entsteht, individuell passende Lebensräume zu finden und auszuprobieren“, kollidiert mit der bitteren Erfahrung vor Ort: Widerstände gegen die Auflösung der Großeinrichtungen orten die AutorInnen dort, wo die Institution einen wichtigen Arbeitgeber darstellt, die Gedankenspiele zur Anstaltsauflösung schon an der „Furcht vor Arbeitslosigkeit“ scheitern.

Zusätzlich monieren die PraktikerInnen, daß es keine verbindlichen Regelungen gibt, die die Wohnstättenträger zur Bereitstellung von kleinen und gemeindenahen Wohnungen verpflichtet. Daß trotz dieser Hindernisse die Realität nicht akzeptiert werden kann, macht eindringlich eine weitere Aufgabe deutlich: Allein 15.000 geistig Behinderte leben heute noch in psychiatrischen Anstalten, sind dort nochmals isoliert und werden nur noch verwahrt.

Diese aufrüttelnde Tatsache ergänzen Mitarbeiter aus dem Landeskrankenhaus Gütersloh, die in ihrem Rückblick auf die Verkleinerung der Großkrankenhäuser feststellen, daß die Praxis der gegenwärtigen gemeindepsychiatrischen Reformbestrebungen die „chronisch Kranken und Unheilbaren“ vernachlässigt. Die Reformansätze gehen vielmehr wie immer in den letzten 150 Jahren von den Bedürfnissen der Heilbaren aus. In Gütersloh ist es, wie in dem von Konstanze Koenning herausgegebenen Buch nachzulesen, gelungen, von 200 sogenannten Langzeitpatienten die Hälfte in freiere Wohnformen zu entlassen.

Dabei muß der formuliuerte Anspruch, „unsere therapeutische Ungeduld zu zügeln“, eine wesentliche Voraussetzung gewesen sein. Wie das praktisch ausgesehen haben mag, ob die Mitarbeiter der Gütersloher Psychiatrie sich tatsächlich immer von den gesellschaftlichen Wertmaßstäben lösen konnten, muß bei einer Betrachtung aus der Sicht des Arztes, Theologen oder Psychologen offen bleiben.

Skepsis ist beim kritischen Lesen einzelner Beiträge angebracht. Ein Fazit gilt dabei aber für alle drei Publikationen: Heimauflösung ist machbar, der Weg dorthin aber mit notwendigen Auseinandersetzungen gepflastert.

Udo Sierck

Anneliese Mayer/Jutta Rütter (Hrsg.): Abschied vom Heim, München 1988, 226 S., DM 22,

Hajo Jakobs u.a. (Hrsg.): Lebensräume - Lebensperspektiven, Frankf. 1987, 403 S.

Konstanze Koenning (Hrsg.): Spät kommt ihr... Gütersloher Wege mit Langzeitpatienten, Gütersloh 1986